Benedetto De Vivo: "Die Camorra ist gesellschaftlich akzeptiert"
Ein neapolitanischer Wissenschaftler erklärt, wie Fehlentscheidungen und Kriminalität Neapels Müllnotstand verewigen.
Herr Professor De Vivo, wieso türmt sich der Müll auf Neapels Straßen?
Vor einigen Jahren hat die Region beschlossen, in Acerra in der Provinz Neapel eine Müllverbrennungsanlage mit einer Kapazität von 750 000 Tonnen jährlich zu bauen - die größten Anlagen in Europa, wie etwa die in Wien, sind für 150 000 Tonnen ausgelegt. Dann wurden die vorhandenen Mülldeponien geschlossen, da man sie ja nicht mehr brauchen würde. Die Krise entstand dadurch, dass man der Firma, die den Zuschlag bekam, auch die Verwertung des Mülls anvertraute. Es handelt sich dabei nicht um einen kleinen Fisch, sondern um die Fibe, die zum mächtigen Impregilo-Konsortium gehört. Die von der Fibe vorgesehene Technologie ist auf dem Stand von vor 25 Jahren, aber man wollte eben das günstigere Angebot. Da es in Italien ein Gesetz gibt, das Firmen, die alternative Energie produzieren, beträchtliche Mittel zukommen lässt, hatte die Fibe jedes Interesse, die Mülltrennung zu hintertreiben, denn sie würde das Volumen des zu verbrennenden Mülls reduzieren. Man begann also, diese "Ökoballen" genannten Müllpakete zu fabrizieren, die mit Öko überhaupt nichts zu tun haben. Darauf schaltete sich vor zwei Jahren das Gericht ein und stoppte den Bau der Anlage. Da es nun keine Deponien mehr gab, mussten neue gefunden werden.
Und dagegen wird protestiert.
Der Protest der Bürger gegen die geplanten Deponien ist absolut gerechtfertigt. Dass es in Neapel bestimmte geologische Voraussetzungen gibt, die kein geeignetes Terrain für die Ablagerung von Müll abgeben, ist bekannt. Diese neuen Deponien findet man dort, wo es alte verlassene Steinbrüche in der Umgebung von Neapel gibt. Das vulkanische Gestein, der Tuff, wurde schon immer als Baumaterial benützt, ganz Neapel ist praktisch aus diesem gelben Tuff gebaut. Es gibt also eine Unzahl von verfügbaren Löchern, die jedoch geologisch denkbar ungeeignet sind für Müll. Und gerade dort wurde in den letzten 30 Jahren eine Unmenge von Müll abgeladen. Industriebetriebe in Norditalien und Europa, die Giftmüll zu entsorgen hatten, brachten ihn nach Kampanien. Zudem haben wir es hier mit einer stark verstädterten Region zu tun. Insgesamt also nur negative Voraussetzungen.
Und dort sollen neue Deponien entstehen?
Es gibt viele dokumentierte Fälle von Steinbrüchen, die sechs, sieben Monate zuvor von vielleicht auch anständigen Leuten gekauft wurden, hinter denen aber bestimmte Interessen standen. Sobald diese für 300 000 oder 400 000 Euro erstandenen Steinbrüche als legale Deponien ermittelt wurden, zahlte die Region Millionen von Euro Miete.
Ist das denn politisch so gewollt?
Ich bin Mitglied eines Bürgerkomitees. Schon vor einiger Zeit haben wir Standorte benannt, die als Mülldeponien geeignet wären. Die Voraussetzungen für solche Standorte zu ermitteln, ist nicht schwer, man lernt das im zweiten Jahr des Geologiestudiums. Es ist weltweit bekannt, dass eine Mülldeponie in porösem Gestein, auch wenn sie dem höchsten Stand der Technik entspricht, nur 25 Jahre sicher ist. Danach sickert das Material ins Grundwasser. Für Deponien geeignet ist nur undurchlässiges Erdreich, also Tongestein. Kampanien ist voller Tongestein, zum Beispiel in der Gegend an der Grenze zu Apulien. Da die Politik aber beschlossen hat, dass jede Provinz ihre eigene Deponie haben muss, muss der Müll im Territorium von Neapel entsorgt werden. Doch die Provinz Neapel mit 60 Prozent der Bevölkerung produziert 80 Prozent des Mülls. Wenn man hier eine Deponie errichten will, muss sie mitten in die Stadt.
Oder man schickt Müll nach Deutschland.
Das ja bekanntlich viel näher liegt. Mit involviert in diese Fehlentscheidungen sind auch die Berater. Vielleicht haben die einzelnen Personen nicht unbedingt gewusst, was dahinter steckt, aber mit Hilfe dieser mitunter wohlmeinenden Berater hat sich ein Interessengeflecht entwickelt, das von der intellektuellen Welt an der Universität bis zur Kriminalität der Camorra reicht.
Wieso hindert niemand die Camorra?
Die Camorra ist weitgehend gesellschaftlich akzeptiert, weil sie Arbeitsplätze schafft. Das gilt nicht für ganz Kampanien, sondern in besonderem Maße für die Provinzen Caserta und Neapel, wo es eine hohe Arbeitslosigkeit gibt. Man hat nie eine Analyse des Flusses der Wählerstimmen nach Wahlbezirken vorgenommen, um zu erkennen, wie die Camorra die Wählerstimmen kontrolliert. Man weiß aber genau, welcher Clan in welchem Wahlkreis die Macht hat. Die Linke tut so, als sähe sie das Problem nicht und als wäre die Camorra nur dann im Spiel, wenn Mitte-Rechts gewinnt. Meiner Meinung nach lässt die Camorra aber je nach ihren jeweiligen Geschäftsinteressen über die politischen Strömungen hinweg wählen, egal ob Mitte-Links oder Mitte-Rechts. Wenn also Mitte-Links die absolute Mehrheit erreicht - wie in den letzten 10 Jahren in der Region Kampanien der Fall - dann waren die Stimmen der Camorra ebenso entscheidend wie etwa in Sizilien die Geschäftsinteressen der Mafia für eine Stimmenmehrheit von Mitte-Rechts sorgten. Das Wahlverhalten in Kampanien, wo es die Camorra gibt und Mitte-Links gewinnt, muss also genauso analysiert werden wie das Wahlverhalten in Sizilien, wo es die Mafia gibt und Mitte-Rechts gewinnt.
Das Gespräch führte Erica Fischer.
Benedetto De Vivo ist Professor für Umweltgeochemie an der Universität Neapel und engagiert sich außerdem in einer Bürgerinitiative gegen den Müllnotstand in seiner Heimatstadt.
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