Südafrika nach der Apartheid: Die Buren werden vom Unterdrücker zum Unterdrückten
In Orania, einem Örtchen mitten in Südafrika, sind die Buren ganz unter sich. Das ist nicht die einzige Erstaunlichkeit im Post-Apartheid-Staat.
Auf den ersten Metern gleicht die Siedlung einer Kaserne: überall Wegweiser und Hinweisschilder, die Straßen schnurgerade und betoniert, die Häuser bungalowartig, alles ist aufgeräumt, nirgends liegt Müll herum. Erst weiter unten, Richtung Oranjefluss, wird es etwas anheimelnder. Da erhebt sich ein modernes Hotel mit Wellnesscenter, rund um zwei Schulen ist Kinderlärm zu hören, und idyllisch-einmütig wachsen die hohen, schlanken Bäume einer Pekannuss-Plantage dem strahlend blauen Himmel entgegen. Orania heißt dieser Ort, der erst 1991 gegründet wurde und sich unübersehbar von der Heruntergekommenheit der anderen Ortschaften hier am Rande der Karoo-Halbwüste abhebt. Und noch etwas ist unübersehbar: Orania ist – mitten im Herzen Südafrikas – eine weiße Stadt.
Die knapp 1000 Einwohner sind allesamt Nachfahren holländisch-burischer Einwanderer, sie sind afrikaanssprachig und unzufrieden mit dem, was sich am Kap in den 21 Jahren seit dem Ende der Rassentrennung und dem Machtantritt des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), der früheren Widerstandsbewegung, ereignet hat. Für sie ist ihre kleine Siedlung in der fremd gewordenen Heimat eine Art „Laager“, wie provisorische Unterkünfte bei ihren Vorfahren hießen, die im 17. Jahrhundert an die Südspitze Afrikas kamen, das Land urbar machten – und 1948 die Apartheid erfanden. „Für uns Buren geht es um Überleben oder Untergang“, sagt Daniel van Rensburg, ein langjähriger Orania-Bewohner: „Wir dürfen nicht zu einer Nation ohne Land werden.“ Und weil er nicht als einziger Bure so denkt, wächst die Bevölkerungszahl des besonderen Ortes. In einer Umfrage der afrikaanssprachigen Tageszeitung „Beeld“ (Bild) konnten sich mehr als die Hälfte der Befragten vorstellen, irgendwann einmal nach Orania zu ziehen.
„Ich habe mich nicht vor der Machtübernahme des ANC gefürchtet, aber mich unter den neuen Führern auch nicht mehr sicher gefühlt“, sagt Annatjie Joubert, die vor acht Jahren mit ihrem Mann nach Orania gekommen ist und zuvor in Pretoria lebte, der Hauptstadt, die wie alle großen Städte des Landes unter enormen Kriminalitätsraten ächzt. „In Orania muss niemand Haustür oder Auto abschließen“, sagt Annatjie Joubert, das sei viel wert. Und es hatte auch seinen Preis: „Wir mussten erst mal viel Geld zusammensparen, um uns den Umzug hierher leisten zu können.“
Ganz einfach ist das Leben in Orania nicht. Der kleine Ort bietet seinen Bewohnern nicht allzu viele Verdienstmöglichkeiten. Andererseits ist hier Arbeit selbst zu erledigen, die im Rest des Landes vornehmlich delegiert wird: Schwarze Hausangestellte, wie sie in der südafrikanischen Mittelklasse normal sind, sucht man in Orania vergebens. „Ein weißer Südafrikaner kann sich oft partout nicht vorstellen, das eigene Haus selbst zu putzen“, erklärt John Strydom, der in Orania als eine Art Pressesprecher fungiert. Muss er aber, und er muss auch seine Kühe melken, sein Unkraut jäten und seine Zufahrtsstraße pflastern.
Für Bürgermeister Carel Boshoff symbolisiert Orania somit den wohl letzten burischen Treck in die Unabhängigkeit. Vor bald 200 Jahren hatten die sogenannten „Vortrekker“ der heutigen Buren die Kapprovinz mit Bibel und Gewehr im Gepäck verlassen, um der dortigen britischen Vorherrschaft zu entfliehen und in der rauen Steppe Afrikas eine neue Heimstatt zu finden. War der Exodus 1838 durch die Aufhebung der Sklaverei bedingt, ist es heute die Politik des ANC, die unter vielen Buren akute Zukunftsängste schürt.
Es war Boshoffs Vater Carl, der das Örtchen Orania 1991 gründete, in dem er einem Wasserversorgungsunternehmen eine Reihe verwaister Häuser abkaufte. Die neuen Bürger waren schnell gefunden. Es sind Farmer, Handwerker, Makler, Ingenieure, Computerfachleute, aber auch Arbeiter aus dem Bahn– und Postwesen, die mit dem Machtantritt des ANC ihren Job beim Staat verloren und heute zur Gruppe der „poor whites“ zählen, die etwa zehn Prozent der 4,5 Millionen Weißen im 53-Millionen-Einwohner-Land Südafrika umfasst.
Es gehe in Orania nicht darum, die Apartheid weiterleben zu lassen, sagen die Bewohner, die sich der Ambivalenz ihrer burischen „Volksstaat“-Idee wohl bewusst sind. Aber sie wollten ihre Kultur retten, und zu der gehörten Schwarze so wenig wie Homosexuelle. Es gebe kein Gesetz, dass irgendjemandem die Ansiedlung in Orania verbiete, aber jeder Neuling werde befragt, wie er zu traditionellen Werten stehe, erklärte Strydom einmal im britischen „Mirror“. „Würde ich nach Orania ziehen wollen, wenn ich schwarz oder schwul wäre?“, fragte Strydom und antwortete sich selbst: „Nein.“
Als voriges Jahr eine schwarze BBC-Reporterin über Orania schrieb, in dem Örtchen lebe die Apartheid weiter, bekam sie einen sehr langen Antwortbrief von Quintin Diederichs, dem Besitzer des Restaurants, in dem die Reporterin Interviews führte. Unter anderem teilte er ihr mit, dass die Apartheid in Orania keinesfalls weiterlebe, was man schon daran sehen könne, dass die Reporterin sein Restaurant überhaupt betreten durfte und von ihm bewirtet wurde. Und wer eigentlich der Rassist sei, schrieb er, wenn sie offenbar nur alte Vorurteile verbreite.
Gleichwohl ist Orania für die Mehrzahl der Südafrikaner Symbol einer antiquierten Geisteshaltung und vergangenen Epoche. Als extremistisch wollen die Bewohner aber nicht gelten und grenzen sich darum strikt ab von rassistischen Splitterbewegungen wie etwa der Afrikaner Weerstands-Beweging (AWB) des vor fünf Jahren ermordeten Rechtsradikalen Eugene Terreblanche oder der Boeremag (Burenmacht). „Während die AWB von einer tiefen Sehnsucht nach der alten Apartheid und weißer Vorherrschaft beseelt ist, akzeptieren wir in Orania die Realität des neuen Südafrika und die Gleichheit der Menschen“, sagt Carel Boshoff. Man habe nur nach einem dünn besiedelten Gebiet gesucht, in dem die eigene Kultur nicht gleich wieder durch die klaren Mehrheitsverhältnisse im Land in ihrer Existenz bedroht sei. Anders als die burischen Ultras will die von Boshoff geführte Orania Movement auch unter allen Umständen eine Konfrontation mit der schwarzen Regierung vermeiden. Man hofft auf eine friedliche Koexistenz. Umgekehrt erkennen nicht wenige im regierenden ANC den Wunsch nach Bewahrung der eigenen Kultur und Sprache als legitim an, solange sich alles im Rahmen der Verfassung bewege.
600 Kilometer nordöstlich von Orania steht Willem Bosman am Rande seines Zitrushains. Mit einer Mischung aus Sorge und Stolz schaut er auf fast 10 000 Bäume, an denen Jahr für Jahr mehr als 1000 Tonnen Früchte reifen. Wirklich groß ist seine Farm damit aber nicht. Groß sind die Plantagen jener rund 1000 Farmer, die hier auf dem „platteland“ westlich von Johannesburg, dem Urgrund der Buren, Lebensmittel für die dortige Region und ihre bald zehn Millionen Menschen anbauen. Fast im Alleingang sorgten sie dafür, dass dem Land nach dem Gold nun nicht auch noch seine Orangen und Rinder ausgehen, so sagt man. Noch nämlich bildet die Landwirtschaft mit dem Bergbau das Rückgrat der Wirtschaft am Kap.
Auch Bosman ist afrikaanssprachiger Bure und sieht mit seinem Rauschebart und den kurzen Hosen aus wie der Prototyp seiner Volks. „Wir Afrikaner müssen auf uns aufpassen“, sagt Bosman. Von der Regierung habe man jedenfalls nichts mehr zu erwarten, wie auch die staatlich verordnete „Landreform“ beweise, die die Größe von Farmen beschränkt. Noch bedenklicher findet er die grassierenden Spekulationen, dass die weißen Landwirte womöglich bald gezwungen werden könnten, langjährigen Arbeitern einen gewissen Anteil an ihrer Farm abzutreten. Immer mehr weiße Farmer fragen sich bereits, ob sie der Verfassung und den darin gewährten Eigentumsrechten trauen können – oder ob Südafrika den Weg Simbabwes geht, wo Robert Mugabe in den vergangenen 20 Jahren fast alle 4500 weißen Großfarmer vom Land gejagt und Simbabwe damit in den Ruin gesteuert hat. Ausgeschlossen sei das nicht, sagt Bosman. Längst sei das Wir-Gefühl verblasst und tiefen Ressentiments gewichen. Anfangs habe es so ausgesehen, als ob sich das weiße und schwarze Südafrika versöhnen und ein Beispiel für den Rest der Welt sein könnte. „Wir wollen gerne unseren Beitrag dazu leisten, aber unser Rat ist leider nicht mehr gefragt“, sagt Bosman. Den Grund dafür sieht er in dem Versuch des ANC, Südafrika mit strikten Rassenquoten nach eigenen Vorstellungen umzubauen und die Minderheiten dabei fast völlig zu übergehen. „Nach dem Amtsantritt Mandelas dachten wir, es würde nun fairer und gerechter zugehen“, sagt er, „doch inzwischen wird immer klarer, dass es vielen im ANC um Rache und das Begleichen alter Rechnungen geht.“
Stark verunsichert hat viele Buren auch der jüngste Sturm auf Denkmäler aus der Kolonial- und Apartheidzeit. Als Erstes wurde vor zwei Monaten eine Statue des britischen Imperialisten Cecil Rhodes an der Universität Kapstadt mit Fäkalien übergossen und wenig später vom Sockel gestoßen. Wie ein Lauffeuer breitete sich der Protest danach aus. Landesweit wurden binnen weniger Tage historische Denkmäler besudelt, darunter auch die Statue des von den Buren verehrten Paul Krüger, der seinem Volk im Burenkrieg von 1899 bis 1902 gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Briten vorstand. Auch die Statue von Jan van Riebeeck, dem Gründer Kapstadts, wurde beschmiert. Viele Weiße empfanden das als empörende Steigerung von Jacob Zumas vorangegangenen Verbalattacken. Der südafrikanische Präsident hatte den vor Jahrhunderten ans Kap gekommenen Holländer als „Quelle all der vielen Übel“ beschimpft, mit denen der ANC heute zu kämpfen habe – darunter auch die aktuellen Stromausfälle.
Dabei waren es doch sie, die Buren, die Anfang der 1990er unter dem letzten weißen Präsidenten Frederik Willem de Klerk freiwillig und ohne größeres Blutvergießen die Macht aus der Hand gegeben haben. Im Gegenzug erhielten sie das Versprechen der neuen schwarzen Machthaber, auch künftig einen festen Platz in ihrer Heimat zu haben. Viel sei damals von Aufbruch die Rede gewesen, erinnert sich Bosman, von Einigkeit in Vielfalt und anderen hehren Zielen. Eingetreten sei davon allerdings kaum etwas.
Afrikaans, die Sprache der Buren verschwindet, obschon eigentlich von der Verfassung geschützt. Anders als früher hört man ihren gutturalen Klang fast nirgendwo mehr in der Verwaltung, die nach dem weitgehenden Austausch der weißen durch schwarze Mitarbeiter stark an Effizienz verloren hat. Auch an den Universitäten ist Afrikaans heute selten. Noch wütender macht Bosman die enorme Verschwendung von Steuergeldern durch die neue Elite, sei es für die aufgeplusterte Bürokratie oder die Privatwohnung von Präsident Zuma, in die umgerechnet fast 20 Millionen Euro illegal flossen. Und dann ist da immer wieder der Verweis auf Kriminalität und hohe Mordraten. Das Menschenverachtende der Apartheid wird weniger gerne thematisiert, man stellt das einstige rassistische Regime und das jetzige Verhalten der schwarzen Mehrheit eher gleich.
Andererseits zeigt die Auseinandersetzung um Denkmäler und Symbole auch, wie verständlich die Sorgen vieler Weißen um ihre Zukunft sind. Der nun sichtbar werdende Revanchismus ist genau das, wovor der vor 18 Monaten verstorbene Nelson Mandela stets gewarnt hatte. Groß war zeitlebens seine Sorge, der gefährliche Nationalismus der Buren könne durch einen ähnlichen Nationalismus der Schwarzen ersetzt werden.
Dass die Buren nach dem Ende der Apartheid regelrecht zu Aussätzigen wurden, lag aber auch am Rest der Welt: daran, dass es nach der Entkolonisierung Afrikas ab 1960 zu einem völligen Umschlagen des Zeitgeists kam – und die Buren die Europäer ständig an die Schrecken der eigenen Kolonialherrschaft erinnerten. In einer Art Selbsttherapie geißelte der Westen deshalb die Buren mit großer Härte für ihre Rassentrennung. Erst jetzt, 50 Jahre später, werden sie auch im Ausland nicht mehr nur als Ewiggestrige in Khakiuniform wahrgenommen, sondern differenzierter: mit einer Geschichte als Unterdrückte der Briten und Unterdrücker der Schwarzen und mit einer tiefen Verbundenheit zu Afrika und zum eigenen Stück Land. Nicht von ungefähr hätten sie sich den Namen „Afrikaaners“ gegeben, wie der Historiker Hermann Giliomee über die Buren schreibt. Sie wollten als Weiße zu Afrika gehören.
Es ist den Buren nur ein kleiner Trost, zumindest materiell im Post-Apartheid-Land gut dazustehen. Kein anderer verkörpert das besser als Koos Bekker mit seinem global verzweigten Medienkonzern Naspers. Das Unternehmen war während der Apartheid ein Sprachrohr der burischen Regierung und ein Verlag, der neben afrikaanssprachigen Zeitungen ein paar Landwirtschaftsmagazine verlegte, doch seit 1997 und unter Bekker wurde Naspers neu aufgestellt. Sein größter Erfolg war 2001 der Einstieg bei Tencent, das heute den Markt für Soziale Medien in China beherrscht. Von 32 Millionen US-Dollar ist die Beteiligung der Südafrikaner inzwischen auf über 60 Milliarden US-Dollar geschnellt und hat Naspers zu einem Global Player gemacht.
Ironischerweise waren es gerade das Ende der Arbeitsplatzgarantie und die Afrikanisierung des Staatsdienstes durch den ANC, die viele Buren nach 1994 zum Handeln zwangen. Zwei Drittel von ihnen sind heute selbstständig – eine Art erzwungenes Unternehmertum. Doch es gibt auch viele Verlierer. Einfache Buren, die ihren Job bei Post oder Bahn verloren und keinen neuen fanden, weil die Arbeitgeber nun bevorzugt Schwarze einstellten, leben heute in slumähnlichen Hütten entlang der Ausfallstraßen der großen Städte.
Koos Bekker zeigt exemplarisch, was bei einer Rückbesinnung der Buren auf ihre Vergangenheit möglich wäre, auf ihre Fähigkeit, sich anzupassen und in Zeiten der Not die Richtung zu ändern. „Die Buren sind, genau wie die Weißen in Nordamerika, als eine Siedlergesellschaft stets Kinder einer ungewissen, offenen Grenze gewesen“, schreibt der jüngst verstorbene Ken Owen, einer der besten Beobachter des Landes. „Ihre wichtigsten Institutionen, die berittene Vorhut und das Laager, sind unendlich flexibel“, und genau das würden die Buren nun wieder brauchen, „um im neuen Südafrika vielleicht doch noch ihren Platz zu finden“.
Wolfgang Drechsler
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