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Der russische Präsident Wladimir Putin.
© Reuters

Russland, die Ukraine und Nord Stream 2: Die Bundesregierung schätzt Putin bis heute falsch ein

Der Bund droht mit Konsequenzen für den Fall weiterer Aggressionen Russlands gegen die Ukraine. Lässt sich ein Wladimir Putin davon beeindrucken? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Claudia von Salzen

Es kommt nicht oft vor, dass ein Staatspräsident lange historische Abhandlungen veröffentlicht. Umso bemerkenswerter ist Wladimir Putins Aufsatz „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“, den der Kreml kürzlich veröffentlichte. Putin erläutert darin, warum er fest daran glaube, dass Russen und Ukrainer „ein Volk“ seien. Dem Nachbarland spricht der russische Präsident faktisch das Recht auf Eigenständigkeit ab.

In dem historischen Traktat geht es ihm eigentlich gar nicht um die Geschichte. Der Aufsatz dient als etwas umständlicher Beweis dafür, dass Putin die Ukraine als Teil einer russischen Einflusssphäre betrachtet. Fast beiläufig erinnert er daran, dass die Krim nach dem Russisch-Türkischen Krieg im 18. Jahrhundert an das Russische Kaiserreich ging und die Region am Schwarzen Meer, heute ukrainisches Staatsgebiet, „Noworossija“ (Neurussland) genannt wurde.

Die Geschichte soll als Rechtfertigung für die heutige Politik herhalten, für die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die russische Intervention in der Ostukraine.

Zugleich ist Putins geschichtspolitischer Zwischenruf eine unmissverständliche Warnung an die Ukraine: Echte Souveränität sei für das Land nur in einer Partnerschaft mit Russland möglich. Dass die Ukraine ihren eigenen Weg gehen will und eine Annäherung an die Europäische Union sucht, ist in Putins Lesart ein von finsteren Kräften im Westen aufgezwungenes „antirussisches Projekt“.

Putins Botschaft vor der Einigung zu Nord Stream 2

Bemerkenswert an Putins Aufsatz ist auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung. Denn wenige Tage später reiste die Kanzlerin nach Washington, um über die Zukunft der umstrittenen Pipeline Nord Stream 2 zu reden und den deutsch-amerikanischen Streit beizulegen. Die Ukraine sieht in diesem Projekt eine Gefahr für die eigene Sicherheit. Der Kreml platzierte also unmittelbar vor der Entscheidung einen Text, den man als unverhohlene Drohung gegen die Ukraine verstehen muss.

Dazu passt auch eine andere Äußerung des Präsidenten: Putin knüpfte eine Fortsetzung des Gastransits durch die Ukraine an die Bedingung, dass das Land guten Willen zeige. Wohlverhalten bedeutet in diesem Fall nichts anderes als eine Unterwerfung unter den russischen Machtanspruch. Damit hat Putin bewiesen, was die deutschen Befürworter von Nord Stream 2 so gern abstreiten: Nord Stream 2 ist kein allein wirtschaftliches Projekt, sondern wird vom Kreml ganz gezielt mit politischen Absichten verbunden.

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Die Staaten, die gelegentlich noch als „Westen“ bezeichnet werden, machen seit 2014 immer wieder den gleichen Fehler im Umgang mit Putin. Sie hören entweder nicht genau hin, was er sagt, oder sie gehen davon aus, er würde das schon nicht so ernst meinen. Als vor sieben Jahren Soldaten in Uniformen ohne Hoheitszeichen auf der Krim auftauchten, war die Überraschung groß. Mit diesem Schritt Russlands hatte keiner gerechnet.

Damals kündigte Putin an, Moskau werde die russischsprachige Bevölkerung auf der Krim und in der Ostukraine schützen. Doch die Experten im Westen glaubten nicht, dass Russland die Halbinsel tatsächlich für sich beanspruchen würde. Wenige Wochen nach Putins Ankündigung war die Krim annektiert, und in der Ostukraine kämpften von Moskau dirigierte „Separatisten“ mit russischen Waffen und russischer Unterstützung gegen die ukrainische Armee – der Beginn eines Krieges, der bis heute nicht beendet ist.

Merkels größter außenpolitischer Fehler

Aus dieser bitteren Erfahrung hat die Bundesregierung leider keine Lehren gezogen. Nur ein Jahr später gab sie grünes Licht für die Gaspipeline Nord Stream 2, als sei Russlands Energiekonzern Gazprom ein ganz normaler Geschäftspartner und kein Werkzeug des Kremls, das immer wieder zu politischen Zwecken eingesetzt wird.

Die Entscheidung zugunsten von Nord Stream 2 ist wohl der größte außenpolitische Fehler von Angela Merkel, und bis heute ist unklar, warum die Kanzlerin, die doch Putin von Anfang an mit einer natürlichen Skepsis gegenübertrat, diesen Fehler begangen hat.

Am Ende setzte Merkel das umstrittene Projekt auch noch gegen alle Widerstände durch. Das hat zu einer Entfremdung zwischen Deutschland und seinen osteuropäischen Nachbarn geführt und einen Keil in die EU getrieben. Allein dadurch hat sich das Projekt für den Kreml schon politisch ausgezahlt.

Ein Blick in die Details der Vereinbarung zwischen Berlin und Washington zeigt, dass die Bundesregierung den russischen Präsidenten bis heute falsch einschätzt. Deutschland will Russland dazu bewegen, den Gasvertrag mit der Ukraine, der 2024 ausläuft, um weitere zehn Jahre zu verlängern.

Selbst wenn dieser Vertrag zustande kommt, welchen Wert hätte ein solches Papier? Wird ein Staatschef, der Teile eines Nachbarlandes völkerrechtswidrig annektiert, einen Krieg anzettelt und seine Gegner mit chemischen Kampfstoffen vergiften lässt, vor einem simplen Vertragsbruch zurückschrecken?

Mit seinem historischen Aufsatz hat Putin klargestellt, dass die Ukraine aus seiner Sicht untrennbar zu Russland gehört. Die Bundesregierung droht zwar mit Konsequenzen für den Fall weiterer russischer Aggressionen gegen die Ukraine. Doch bisher hat sie es versäumt, dem Kreml deutlich zu machen, wie hoch der Preis dafür tatsächlich wäre. Das erhöht nun leider das Risiko, dass Putin seinen Drohungen Taten folgen lässt.

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