Habeck betont Machtanspruch der Grünen: „Die Ära Merkel geht zu Ende“
In seiner Rede auf dem Parteitag in Bielefeld erhebt Grünen-Chef Habeck Regierungsanspruch für seine Partei. Eine Bewerbungsrede für das Kanzleramt?
Robert Habeck spürt so langsam die Last der Verantwortung. Die Umfragewerte seien ein großer Vertrauensvorschuss, die Grünen hätten so viele Hoffnungen geweckt, ruft er den Delegierten des Parteitags in der Stadthalle Bielefeld zu. „Wir müssen aus Hoffnung Wirklichkeit machen. „Unumwunden formuliert der Grünen-Chef einen Machtanspruch für seine Partei. „Die Ära Merkel geht erkennbar zu Ende“, sagt er. Eine neue Zeit werde bald beginnen: „Wir werben um die Verantwortung, diese neue Zeit gestalten zu können.“
Seit die Grünen unter der Führung von Habeck und seiner Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock in den Umfragen stabil bei 20 Prozent liegen, verstehen sie sich als „Regierung im Wartestand“. Doch Opposition ist etwas anderes als Regieren, das weiß auch der Grünen-Chef.
In seiner Rede mahnt er seine Partei, auch denen mehr zuzuhören, die Angst vor zu viel Umwelt- und Klimaschutz hätten, den Kohlekumpeln ebenso wie den Beschäftigten in der Autoindustrie. Er fordert „Toleranz auch gegenüber dem Gegenargument“ ein. Selbstkritisch räumt Habeck eine manchmal zu akademische Sprache ein.
Der Grünen-Chef schlägt einen großen Bogen, einigen mag es fast wie Hybris vorkommen. Große Vorbilder in der Geschichte wären nie so weit gekommen, „wenn sie immer nur die Nase in den Wind gesteckt hätten“. Dann hätte es keine Ostpolitik eines Willy Brandt oder die Euro-Beschlüsse unter Helmut Kohl gegeben. Will heißen, bei Kernthemen wie Klimaschutz wollen die Grünen weiter für klare Kante stehen, auch wenn die AfD das Thema zum neuen Angstthema aufbaut. Das Motto, das auf der Parteitagsbühne prangt: „Mehr wagen, um nicht alles zu riskieren.“
Mittendrin bittet Habeck die bei den Grünen eingetretene frühere Frontfrau der Piraten, Marina Weisband, auf die Bühne. Sie ist Jüdin und nicht erst seit dem Terroranschlag von Halle fürchtet sie, dass Hass und Antisemitismus Juden aus Deutschland vertreiben könnten. „Terror beginnt nicht mit Schüssen, Terror beginnt mit Worten“, sagte sie. Danach ist Habeck wieder dran, er redet frei, hinter ihm ein Panorama mit Bäumen. Habeck versucht die Grünen als Bastion gegen eine Erosion der Demokratie zu positionieren. Man dürfe aber nicht zulassen, dass die Grenze des Sagbaren immer weiter verschieben, „dass Lüge zur Wahrheit und Wahrheit zur Lüge wird“.
Habeck nennt AfD Fall für den Verfassungsschutz
Er lobt die CDU-Chefin für die klare Absage an jegliche Kooperation mit der AfD, es gehe hier auch um eine Frage der Ehre. „Wir wissen, dass aus Worten Taten werden.“ Die ganze AfD sei ein Fall für den Verfassungsschutz geworden. „Wir leben in der besten und freiheitlichsten Republik, die es je gab. Verteidigen wir sie und sorgen dafür, dass sie nicht von den Faschisten abgeräumt wird“, sagt Habeck.
Inhaltlich bleibt der Grünen-Chef vage. Wie er zum Beispiel die wachsende Stadt-Land-Kluft auflösen will, bleibt unklar. Bielefeld ist auch der Versuch, die Grünen thematisch breiter zu positionieren. Bewusst steht am ersten Tag des dreitägigen Treffens nicht die Klimapolitik im Fokus, sondern die Wohn- und Mietenpolitik.
Hier schwankt die Partei zwischen Vorschlägen, die als Kampfansage an Spekulanten und Immobilienverbände zu verstehen sind und Maßnahmen, die juristisch heikel sind, etwa das Recht auf einen Wohnungstausch: So sollen alleinstehende ältere Menschen ihre als zu groß empfundene Wohnung mit Familien tauschen können, die mehr Platz benötigen. Beide sollen ihre Mietverträge behalten, also von den massiven Kostensteigerungen bei Neuvermietungen verschont bleiben. Ein Eingriff in die Vertragsfreiheit und das Eigentumsrecht, wie auch manche Grüne kritisch anmerken.
Viele Vorschläge wären mit der CDU nicht zu machen, aber in einem Bündnis mit SPD und Linken schon. Habeck und Baerbock unterstützen auch Enteignungen als letztes Mittel.
Bielefeld ist für die grünen ein historischer Ort
Für die Grünen ist Bielefeld ein historischer Ort, Bundesgeschäftsführer Michael Kellner erinnert zu Beginn des Parteitags daran, dass vor gut 20 Jahren, im Mai 1999, hier ein Sonderparteitag stattfand, der für die Grünen eine Zäsur bedeutete. Kurz nach dem Eintritt in die rot-grüne Bundesregierung rang die Partei sich hier zu einer Beteiligung am Kosovo-Krieg der Nato durch, erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wurden deutsche Soldaten in einen Auslandseinsatz geschickt. Mehr als 1000 Polizisten waren beim Parteitag im Einsatz, Demonstranten hatten den Einlass zur Seidensticker-Halle blockiert, in der die Grünen damals tagten.
Ins Gedächtnis eingeprägt hat sich der Parteitag auch, weil der damalige Außenminister Joschka Fischer einen Farbbeutel den Kopf geworfen bekam, der sein Trommelfell zum Platzen brachte.
Für die Partei, die auch aus der Friedensbewegung hervorgegangen war, war der Beschluss zum Kosovo-Einsatz ein riesiger Schritt. Von vielen wurde er als Beleg für die Regierungsfähigkeit der Grünen gewertet. Doch für etliche Mitglieder war Bielefeld ein Trauma, Parteiaustritte folgten. Michael Kellner gehörte damals zur unterlegenen Seite. „Ich wäre beinahe ausgetreten“, sagt er. Doch das „ernsthafte Ringen“ um Kompromisse habe ihn damals dann doch gehalten.
Kommt jetzt die grüne Kanzlerschaft?
Ist Bielefeld 2019 ein Vorbereitungs-Parteitag auf eine Regierungsbeteiligung, womöglich mit grüner Kanzlerschaft? Von Farbbeutel-Würfen sind die Grünen weit entfernt, Geschlossenheit ist angesagt. Die Delegierten bejubeln die Vorsitzenden, die ihnen „die beiden besten Jahre“ in der Geschichte der Grünen beschert haben, wie Kellner vor kurzem schwärmte. Seit das neue Führungsduo an der Spitze steht, wächst nicht nur kontinuierlich die Mitgliederzahl (von 75.000 auf derzeit 94.000), sondern die Grünen erzielten bei der Europawahl und den letzten Landtagswahlen (ausgenommen Thüringen) Rekordergebnisse.
Im ARD-Deutschlandtrend kommen sie aktuell auf 22 Prozent. Zusammen mit SPD (15 Prozent) und Linken (9) gibt es fast eine grün-rot-rote Mehrheit – aber noch sind es nur Umfragen. Und irgendwann müssen die Grünen klären, ob sie Habeck oder Baerbock ins Rennen um das Kanzleramt schicken wollen. Ihre Wahlergebnisse bei der angestrebten Wiederwahl am Samstag könnten erste Hinweise hierauf liefern.