Fazit nach den Landtagswahlen: Die AfD ist keine Volkspartei!
Die AfD ist der Angstgegner der großen Parteien. Das ist falsch: Man muss sie zwar ernstnehmen, aber überhöhen sollte man sie nicht. Ein Kommentar.
Die Analysen zu den vergangenen Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg könnten kaum unterschiedlicher sein: CDU und SPD sind erleichtert, nach dem Motto „Die Ergebnisse sind besser als erwartet“. Die beiden Regierungsparteien wollen so offenbar der Gefahr eines vorzeitigen Endes der „Großen Koalition“ vorbeugen.
Der Bewerber für den nächsten SPD-Parteivorsitz, Olaf Scholz, erklärt sogar: „Wir können noch Wahlen gewinnen“. Und das trotz des starken SPD-Verlustes und der Abwahl des bisherigen Regierungsbündnisses von SPD und Linken in Brandenburg. In Wahrheit ging es im Wahlkampf beider Länder am Ende „nur“ noch um die Frage, ob die AfD zur stärksten Kraft werden kann oder nicht. Zum Glück hat diese Auseinandersetzung den beiden amtierenden Ministerpräsidenten geholfen.
Und auch die erneute Diskussion über die Große Koalition als Ursache für das Wahlergebnis in Brandenburg und Sachsen ist ein Trugbild. Die GroKo hat weder der SPD in Brandenburg noch der CDU in Sachsen geschadet. So stieg der Anteil der SPD-Wähler in Brandenburg von 12,8 Prozent bei der Bundestagswahl 2017 (bezogen auf alle Wahlberechtigten) auf 15,9 Prozent bei der Landtagswahl.
In Sachsen stieg der CDU-Anteil von 20,0 Prozent 2017 auf 21,2 Prozent 2019, auch hier bezogen auf alle Wahlberechtigten. Insgesamt lässt die Bindekraft beider Parteien nach – das war aber auch schon vor der Gründung der AfD 2013 so. Der SPD-Anteil in Brandenburg sank schon 2009 bei der Bundestagswahl etwa auf das heutige Niveau. Die CDU in Sachsen lag bezogen auf alle Wahlberechtigten ebenfalls schon 2009 unter dem aktuellen CDU-Anteil.
Aber auch der Angstgegner der demokratischen Parteien, die AfD, verfällt der Autosuggestion. Schon vor den Landtagswahlen hatten viele Medien die Partei zur „neuen Volkspartei im Osten“ ausgerufen. Und genauso argumentierten dann auch am Wahlabend deren führende Vertreter.
Hat die AfD ihren Zenit überschritten?
Forsa-Chef Manfred Güllner wies als Einziger und zu Recht darauf hin, dass die AfD auch nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg von einer „Volkspartei“ weit entfernt ist. Schaut man sich nämlich die Wahlergebnisse auf der Basis der Wahlberechtigten an – also aller Deutschen in beiden Bundesländern –, so wählten in Sachsen 18,1 und in Brandenburg 14,2 Prozent der Bürger die AfD.
Der Forsa-Chef hat recht, wenn er sagt: „Die große Mehrheit der Brandenburger und der Sachsen gab weder der AfD noch der NPD ihre Stimme.“
Vergleicht man das Ergebnis der Landtagswahlen mit dem der Bundestagswahl 2017, dann zeigt sich, dass AfD und NPD in absoluten Zahlen sogar weniger Stimmen erhalten haben als zwei Jahre zuvor. Vieles spricht also dafür, dass die AfD ihren Zenit überschritten hat. Das rechtsradikale Potential dürfte die AfD zu Lasten von NPD, DVU und anderer offen rechtsradikaler Parteien längst „aufgesaugt“ haben, ebenso wie die „Dauer-Nichtwähler“.
Ja, es gibt sie, die Kluft zwischen dem politischen Ost- und Westdeutschland. Aber es gibt auch eine andere Kluft: die zwischen der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes und der Minderheit der Anhänger der AfD. Zu wenig Beachtung bekommen häufig diejenigen, die weiß Gott auch nicht mit allem zufrieden sind, was sie so im Lande erleben, und trotzdem nicht den Gegnern eines friedlichen Zusammenlebens ihre Stimme geben.
Die AfD ist das Gegenteil einer Volkspartei. Manfred Güllner von Forsa schreibt treffend: „Die AfD-Wähler sind nach wie vor eine weitgehend homogene, überwiegend von Männern getragene verschworene Gemeinschaft, die großes Misstrauen gegenüber allen anderen Menschen, das Gefühl subjektiver Benachteiligung gepaart mit extrem pessimistischen Wirtschaftserwartungen, eine Verachtung des gesamten politischen Systems und eine große Anfälligkeit für völkisches Gedankengut eint.“
Man darf die AfD nicht überhöhen
Ich plädiere keineswegs dafür, die AfD nicht ernst zu nehmen, aber sie überhöhen darf man auch nicht. Weit mehr Sorgen machen mir die Nichtwähler, denn sie drücken ihren Unmut aber durch Wahlenthaltung aus. Die „Partei der Nichtwähler“ war auch in Brandenburg (mit 39 Prozent) und in Sachsen (mit 34 Prozent) zahlenmäßig fast dreimal (in Brandenburg) beziehungsweise fast zweimal (in Sachsen) größer als die Zahl der AfD-Wähler. Aber diese zahlenmäßig weit größere Gruppe wird vergessen. Auf diese Nichtwählerinnen und Nichtwähler wird es aber ankommen, wenn unser politisches System wieder an Stabilität gewinnen soll.
Aus meiner Sicht kann man drei Schlussfolgerungen aus den beiden Landtagswahlen ziehen.
Erstens: Diese beiden Landtagswahlen zeigen, dass die bisherige Scheckbuch-Politik von Union und SPD ihren politischen Grenznutzen erreicht hat. Die SPD hat schon vor drei Monaten die Grundrente gerade für die Ostbürger versprochen – ohne irgendeine Wirkung. Entweder glauben die Leute CDU und SPD nichts mehr, oder – und das wäre fast ein bisschen beruhigend – die Politik der materiellen Versprechen nützt nichts mehr, weil andere politische Orientierungen weit wichtiger geworden sind.
Die Menschen wollen nicht heute mehr Geld, sondern Orientierung für morgen in einer zunehmend unübersichtlicheren Welt. Bündnis 90/Die Grünen bedienen diese Sehnsucht mit ihrer kompromisslosen Klimaschutzpolitik. Wer aber liefert die Orientierung für die anderen 80 Prozent, die andere Sorgen umtreiben?
Sehnsucht nach einem politischen Kompass
Viele sehnen sich nach einem politischen Kompass, der anzeigt, wo das Land in zehn Jahren stehen soll, was wir unternehmen wollen, damit wir und unsere Kinder auch dann noch wirtschaftlich erfolgreich und sozial sicher leben können.
Wie wird unser Staat den minimalen Ansprüchen seiner Bürger nach ausreichend Lehrern, Polizisten, Richtern und einer funktionierenden Infrastruktur gerecht? Ich bin überzeugt: Die kommenden Wahlen gewinnt diejenige politische Gruppierung, die für die Zukunft eine glaubwürdige und nachvollziehbare Projektion bereithält – und nicht die, die möglichst viel Geld im Heute ausgibt.
Zweitens: Beide große Parteien schichten Steuergeld von den unteren Mittelschichten auf die oberen Mittelschichten um. Das trifft etwa auf den Berliner Mietendeckel zu, der den wohlhabenderen Mietern in den größeren Wohnungen Dahlems oder Zehlendorfs mehr hilft als den wohnungssuchenden jungen Familien, für die die Bauverhinderungspolitik der zuständigen Senatorin zu wenig Wohnungen geschaffen hat.
Die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, die nicht mal zwischen Vollzeittätigkeit und Teilzeit unterscheiden will, dürfte langjährigen Beitragszahlern der Rentenversicherung unfair vorkommen.
Und wenn das Elterngeld nicht mehr dazu dient, dass Mütter und Väter etwas weniger arbeiten müssen, um gemeinsam Arbeit und Kindererziehung unter einen Hut zu bekommen, sondern zu einem staatlich subventionieren Dreimonatsurlaub für die besser verdienende obere Mittelschicht degeneriert – natürlich bezahlt von den Steuergeldern der weniger gut verdienenden, die sich das nicht leisten können – dann fehlt schlicht die Klarheit, für wen Sozialdemokraten eigentlich Politik machen.
Die SPD schaufelt sich ihr eigenes elektorales Grab
Damit treibt vor allem die SPD die Entsolidarisierung unterschiedlicher sozialer Schichten voran. Sie schaufelt sich so ihr eigenes elektorales Grab, weil sie keine zusammenhängende Erzählung mehr vortragen kann.
Handlungsfähige Koalitionen sind Ausdruck eines Bündnisses unterschiedlicher Teile der Gesellschaft und gehen diesen Bündnissen nicht etwa voraus. Je mehr die SPD in ihrer Sehnsucht nach „linken“ Bündnissen versucht, linker als die Linke und grüner als die Grünen zu sein, desto weniger wird sie als eigenständige Kraft wahrgenommen – und desto unwahrscheinlicher wird ein solches Bündnis. Schlicht, weil die SPD zu schwach bleibt.
Nur wenn die SPD glaubwürdig die gesellschaftliche Mitte repräsentiert, kann diese Konstellation von SPD, Grünen und Linkspartei Erfolg haben. Davon sind SPD und Linke weit entfernt und die Grünen werden sich in ihrer gewachsenen Stärke eher mit der Union verbünden als mit zwei schwächelnden Mitte-Links Parteien.
Drittens: Wenn in den strukturschwachen Gebieten etwas getan werden soll, dann darf man nicht zuerst vorhandene tragfähige Strukturen zerstören, bevor man Neues aufbaut. Das aber ist in der Lausitz geschehen. Das Ergebnis: Die AfD ist stärkste Partei.
Unglaublich herablassend
Wen sollten die Bürgerinnen und Bürger dort auch wählen, wo ihnen doch eine ganz große Koalition von CDU, SPD, Grünen, FDP und Linkspartei gegenüberstand? Der dümmste Kommentar zu den Wahlergebnissen des vergangenen Sonntags lautete deshalb, dass „die neuen Regierungen ihre Politik besser erklären“ müssten. Das ist unglaublich herablassend. So, als seien die Wähler zu dumm, die Weisheit derjenigen zu verstehen, die ihnen die Existenz rauben wollen.
So ähnlich hatte Hillary Clinton ihre früheren Wähler mit ihrer abwertenden Bemerkung über die „deplorables“ in die Arme von Trump getrieben. Die Menschen wissen exakt, was ihnen droht: Vor 30 Jahren hat es 100.000 Arbeitsplätze in der Braunkohle gegeben, von denen nach der Wiedervereinigung nur noch 10.000 übrigblieben sind. Drei Jahrzehnte lang wurde den Menschen in der Lausitz versprochen, sie mögen sich keine Sorgen machen, die Politik würde schon für Ersatzarbeitsplätze sorgen. Der Erfahrung zeigt: Pustekuchen! Qualifizierte und gut bezahlte Arbeit kam nicht in die Lausitz. Politisch klüger wäre es gewesen, zuerst unter Beweis zu stellen, dass neue Arbeit entsteht, bevor man den frühzeitigen Kohleausstieg beschließt. Für den Klimaschutz hätte das keine Auswirkungen gehabt, weil ja ohnehin die europäischen Regeln die Treibhausgase limitieren und nicht nationale Alleingänge.
Die Verlockung, sich im Licht der Klimaschutzdebatte durch einen baldigen Ausstieg aus der Kohleverstromung zu profilieren, war aber einfach zu groß. Es galt das Motto „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“ – nur dass demokratische Gesellschaften keine überflüssigen Menschen kennen.
CDU und SPD sitzen vor der AfD wie Kaninchen vor der Schlange
Aber statt sich an die zu wenden, die immer noch jeden Tag leistungsbereit den Wohlstand dieses Landes erarbeiten und sich in den Wettbewerb über die besten Ideen zur Zukunft unseres Landes begeben, sitzen vor allem CDU und SPD vor der AfD wie die Kaninchen vor der Schlange.
Die eigentliche Frage ist, ob das stärker aufgefächerte Parteiensystem in seiner Gesamtheit ausreichend Bindekraft entwickelt und ob die größere Zahl an Parteien in der Lage ist, stabile Regierungen zu bilden. Die geplatzte Regierungsbildung zwischen CDU, Grünen und FDP nach der letzten Bundestagswahl zeigt, dass wir für Letzteres noch etwas Übung brauchen – mehr aber auch nicht.
Schwieriger scheint mir die erste Aufgabe zu sein: Parteien haben eine ganz natürliche Repräsentationsaufgabe, denn sie bilden – auch wenn sie sich als Volksparteien verstehen – nicht das gesamte Volk ab, sondern haben Kernidentitäten, die Bindekraft in die Wählerschaft entfalten.
Gleichzeitig gelang es den Volksparteien, Bündnisse zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu schmieden. So war die Union nie nur wirtschaftsnah und gesellschaftspolitisch konservativ, aber bei Fragen der Energiepolitik, der Migration oder der Wirtschaftspolitik war dieses Profil über Jahrzehnte vorhanden.
Eine Volkspartei ist kein Vollsortimenter
Und die Sozialdemokraten waren weiß Gott nicht wirtschaftsfeindlich, aber die Themen der sozialen Sicherheit prägten ihr Image so sehr, dass selbst bei der heftigen Diskussion um die Reformpolitik Gerhard Schröders die SPD immer als die sozial kompetenteste Partei in Deutschland galt.
Heute sind die politischen Profile weit unkenntlicher als noch vor einigen Jahren. Und das dürfte nicht an den drei Großen Koalitionen liegen, sondern vermutlich weit mehr daran, dass beide Parteien versucht haben, der gesellschaftlichen Individualisierung hinterher zu laufen. Jeder sollte sich wiederfinden.
Union und SPD verwechselten Volkspartei mit einem Vollsortimenter im Einzelhandel, bei dem es alles zu finden gibt. Man weiß am Ende kaum noch, ist man bei Rewe, Edeka, Aldi oder Lidl. So ähnlich ergeht es vielen Wählerinnen und Wählern. Die Zukunft der Volksparteien wird im Wesentlichen davon abhängen, ob sie wieder klar definieren können, wen sie in der Gesellschaft repräsentieren wollen, um Profilbildung und Identitäten zu ermöglichen, aus denen heraus dann gesellschaftliche und politische Bündnisse gebildet werden können.