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Wolf Biermann griff die Linkspartei frontal an. Deren Abgeordneten seien „der elende Rest dessen, was zum Glück überwunden wurde“.
© dpa

Feiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls: Deutschstunde mit Wolf Biermann im Bundestag

Die Feiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls beginnen mit einer beispiellosen Szene. Liedermacher Wolf Biermann nutzt einen Auftritt im Bundestag zur Generalabrechnung mit der Linken.

Norbert Lammerts Gesicht rötet sich, erst langsam, schließlich glüht der Schädel des Bundestagspräsidenten knallrot. Hat der Christdemokrat wirklich geglaubt, er kann Wolf Biermann in den Reichstag einladen, und der singt bloß? Biermann hat die Lederjoppe abgelegt, ein Vorspiel auf der Gitarre, dann – kein Lied. Er ahne ja, dass Lammert ihn hergelockt habe, hebt der 77-Jährige an, damit er der Linken ein paar Ohrfeigen verpasse, allein: „Mein Beruf war doch Drachentöter!“

Lammert ahnt wohl, dass ihm seine kleine Idee gerade über den Kopf wächst. Er verweist auf die Geschäftsordnung: Nur Abgeordnete haben hier das Wort. Biermann grunzt bloß. „Ich hab’ mir das Reden in der DDR nicht abgewöhnt, und das werd’ ich hier schon gar nicht tun!“ Im Plenum johlen sie. Das Kabinett klatscht. Außenminister Frank-Walter Steinmeier prustet in sich hinein. Die Geschäftsordnung ist am Ende. Und das ist das einzig Angemessene an diesem Tag, der alles verträgt, Tränen vor Lachen, Tränen der Rührung, Tränen der Wut – bloß keine geschäftsmäßige Ordnung.

Dabei fängt diese Stunde so ruhig an. Draußen vor dem Reichstag schwanken die weißen Lichtkugeln leicht im Wind, die den Lauf der Mauer markieren. Schwer zu sagen, ob die Idee bei Jüngeren funktioniert. Aber wer damals dabei war, dem wird beim Anblick der dichten Reihe beklommen ums Herz.

Drinnen im Parlament sind die Bänke so lala gefüllt. Hinten klaffen große Lücken, nicht nur bei der Linksfraktion. Der kleine Mann mit dem abgenutzten Gitarrenkoffer spaziert fast unbemerkt in den Saal, plaudert mit diesem und jenem und lässt sich mit der Christdemokratin Erika Steinbach handyfotografieren. Die Linksfraktion schaut unfroh. Lammert hat sie nach allen Regeln der Geschäftsordnung reingelegt, als er vor Tagen im Ältestenrat einen Musikbeitrag für die Feierstunde zum Mauerfall vorschlug und den Namen „Biermann“ so beiläufig fallen ließ, dass es ein Scherz schien.

Lammert spricht als Erster. Er erinnert an den Jubel und „Wahnsinn“ des 9. November 1989, zugleich aber an alle, die die Mauer zum Einsturz bringen halfen: Polen, Ungarn, Tschechen, Balten. Vermutlich, sagt er, wäre ohne diese Vorgeschichten der 9. November in Deutschland gar nicht passiert. Oben auf der Ehrentribüne hören die Stasi-Archivare Roland Jahn und Marianne Birthler zu. Unten in der Regierungsbank ist Angela Merkel etwas eingefallen, was sie ihrem Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel unbedingt erzählen muss. Wenn die Gesichter nicht täuschen, ist es eine Geschichte aus der Zeit, als Merkel in Ostberlin den Mauerfall verpasste, nur besser. Gabriel lacht. Steinmeier tippt ihm von hinten auf die Schulter und mahnt Disziplin an.

Es folgt nun aber der Musikbeitrag. „So“, sagt Biermann, bevor er die Gitarre stimmt. Genau so geht es weiter nach dem Wortwechsel in Sachen Geschäftsordnung. „Ein Drachentöter“, höhnt Biermann, nach links zur Linken gewandt, „kann nicht mit großer Gebärde die Reste der Drachenbrut tapfer niederschlagen – die sind geschlagen!“ Strafe genug, dass sie hier sitzen und ihn anhören müssten, nicht links seien sie, sondern „reaktionär“, „der elende Rest dessen, was zum Glück überwunden ist“. In der Linksfraktion springen sie empört auf, gestikulieren und widersprechen. „Wir sind gewählt“, ruft jemand. Eine Wahl, raunzt Biermann, sei „kein Gottesurteil“.

Zuletzt singt er doch noch – „Ermutigung“. In den Gefängnissen der DDR, sagt Biermann, haben sie das Lied als „Seelenbrot“ angestimmt: „Du lass’ dich nicht verhärten in dieser harten Zeit ...“ In den Bänken der Linken schlägt einer den Takt mit den Händen und singt ganz leise mit. Richard Pitterle aus Baden- Württemberg hat schon morgens den Mann mit Handschlag begrüßt, den die DDR 1976 als „Staatsfeind“ ausbürgerte.

Als der letzte Ton verklingt, klatschen aber auch viele seiner Parteifreunde. Sogar Gregor Gysi, dem vorhin die Wut in den Augen glitzerte. Der Fraktionschef redet später für die Linke. Er geht mit keinem Wort auf Biermann ein. Aber Lammert wird zum zweiten Mal ein bisschen rot. Der Chef der Linksfraktion sagt nämlich nicht nur, was man so erwartet – dass die Leute nicht alles schlecht gefunden hätten in der DDR und dass Freiheit ohne soziale Sicherheit und Gerechtigkeit nicht das Wahre sei. Gysi sagt zugleich Sätze, die in seinen Reihen nicht jeder hören mag. „Die DDR war eine Diktatur, sie war kein Rechtstaat“ ist so ein Satz. Oder der, dass der Fall der Mauer „ein ungeheurer Befreiungsakt“ war.

Vielleicht hat Biermann ihn mit gemeint mit der Bemerkung, dass er einige Gesichter auf der Linken-Seite kenne – „jeder Einzelne ein Roman, sehr kompliziert“. Und keiner zu Ende erzählt. „Das Vergangene ist nicht vorbei“, sagt die Grüne Katrin Göring-Eckardt. Die alten Schlachten sind nicht vergessen. Nicht da, wo früher Westen war. Nur noch elf Abgeordnete sitzen im Bundestag, die damals dabei waren. CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt ist eine. Als sie sagt, dass CDU und CSU stets an der Einheit festgehalten hätten und andere nicht, rührt sich bei der SPD keine Hand.

Erst recht nicht da, wo die Mauer den Osten markierte. Katrin Göring-Eckardt erzählt von dem 16-Jährigen, den sie – als Tochter eines Tanzlehrers kam sie rum im Land – in einem „Jugendwerkhof“ traf, den Erziehungsheimen der DDR für Unangepasste aller Art. „Ich hab’ doch gar nichts getan“, hat der Junge gesagt, „nur einen Witz gemacht über die Mauer.“ Nie, sagt die Grüne, werde sie die zitternde Hand des Kindes vergessen. Arnold Vaatz zitiert den Spruch, mit dem ihn sein Gefängniswärter 1982 empfing: „Jeder wird satt, es gibt Arbeit für alle.“ Vieles, was wichtig sei für Menschen, gebe es eben auch hinter Gittern – kein Grund, das Gefängnis zu schätzen. Der Christdemokrat bekommt als letzter Redner stehenden Beifall von allen, außer von ganz links.

Ein gespaltenes Land also, immer noch? „Manchmal sehne ich mich zurück in diese Zeit im November 1989“, sagt die Sozialdemokratin Iris Gleicke – da schießen ihr die Tränen in die Augen. Im Plenarsaal brandet ein kleiner Applaus auf wie eine schützende Umarmung. Gleicke kann den Satz stockend zu Ende bringen: „... als die Deutschen sich in den Armen gelegen haben.“

Draußen zieht die weiße Kugelgrenze auch diese Erinnerung nach. Und übrigens, das Brandenburger Tor ist gerade ebenfalls wieder zu. Hinter Gittern werden Tribünen und Lautsprecher aufgetürmt für das große Fest. Ein junger Mann mit „Security“-Warnweste weist ein Touristenpaar zurück. „No way?“ fragt die Frau. Aber der Wächter ist zu jung, um die Ironie der Szene zu begreifen. „No way“, sagt er mit fester Stimme.

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