Interview: "Deutschlands Eliten haben sich radikalisiert"
Die Frage, ob Hartz-IV-Empfänger Sozialschmarotzer sind oder nicht, lenkt davon ab, was am anderen Ende der Gesellschaft passiert, meint Michael Hartmann. Der Soziologe spricht im Interview über die Hartz-IV-Debatten, Mittelschichten und die reicher werdenden Reichen.
Thilo Sarrazin hat jüngst Hartz-IV-Empfängern kaltes Duschen empfohlen, wenn das Geld fürs warme Wasser nicht reicht. Ein Einzelfall?
Die Fälle häufen sich. Seit Wochen läuft die Westerwelle-Debatte um angebliche Sozialschmarotzer, der Philosoph Peter Sloterdijk macht sich für die sogenannten „Leistungsträger“ stark, die der Steuerstaat zugunsten der Unproduktiven enteigne, die als kultiviert und nachdenklich geltende „Zeit“ malt auf ihrer ersten Seite das Schreckbild der „Einwanderung in die Sozialsysteme“. Das ist zwar durch Fakten nicht zu belegen, aber es wird umgehend auf dem Titel der „Bild“-Zeitung zitiert. Eine erstaunliche Allianz. Und eine Aktivistin des Hamburger Volksbegehrens zur Rettung des grundständigen Gymnasiums bedauert im Fernsehen, dass seit den 80er Jahren ein „akademisches Proletariat“ herangezüchtet worden sei, das „weder für eine wissenschaftliche noch für eine gehobene akademische Laufbahn“ tauge. All das und das öffentliche Echo zeigen mir, dass salonfähig geworden ist, was Sarrazin sagt.
Die Hamburger Eltern, die das dreigliedrige Schulsystem erhalten wollen, dürften vom Alter her doch auch zu jenen gehören, die von Ausbau und Öffnung der Schulen und Universitäten seit den 60er Jahren profitiert haben?
Sicher sind da Bildungsaufsteiger von damals dabei. Mit dem klassischen alten Bildungsbürgertum bekommen Sie die gut 15 Prozent der Wahlberechtigten nicht zusammen, die jetzt in Hamburg für ein Volksbegehren gestimmt haben. Ich nehme vielen dieser Eltern durchaus ab, dass sie glauben, der Bildungserfolg sei größer, wenn man schwächere Schüler, das heißt vor allem Migranten und sozial Schwache, aus den weiterführenden Schulen fernhält – auch wenn alle Studien das Gegenteil belegen. Aber dazu kommt natürlich auch die Überlegung, dass so 60 Prozent eines Jahrgangs praktisch keine Chance mehr auf ein Studium haben, als Konkurrenz für die eigenen Kinder also ausscheiden. Dafür sorgt das dreigliedrige Schulsystem.
Hat sich Deutschlands Elite verändert?
Sie ist erstens homogener geworden. Die politische Elite hat sich der wirtschaftlichen angeglichen. Im neuen Kabinett Merkel haben drei Großbürgerkinder zentrale Ministerien inne: Guttenberg aus einer der 400 reichsten Familien Deutschlands und 800 Jahre altem Adel, de Maizière aus einer gut vernetzten Hugenottenfamilie und von der Leyen. Das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie. Man ist immer mehr unter sich und wird mit anderen Lebenswirklichkeiten gar nicht mehr konfrontiert. Zweitens haben sich Deutschlands Eliten radikalisiert – das sieht man an Äußerungen wie den zitierten.
Wollen Sie alle Angehörigen der Eliten unter Generalverdacht stellen?
Natürlich denken nicht alle gleich. Aber wenn es um Grundsätzliches geht, ums Geld, stelle ich fest, dass es relativ wenig Differenzen gibt. Als ich zum Beispiel auf dem Arbeitgebertag darauf hinwies, dass sich der Wunsch nach einem besseren Schulsystem nicht mit einer Reduzierung oder gar Abschaffung der Erbschaftssteuer vertrüge, grummelten 90 Prozent im Saal deutlich.
Worauf führen Sie das zurück?
Der Kuchen ist schlicht kleiner geworden. In den 70er und 80er Jahren gab es mehr zu verteilen, da war man bereit, auch an das ärmere Drittel der Gesellschaft abzugeben. Jetzt aber geht es darum festzulegen, wie die Kosten der Finanzkrise verteilt werden. Und da heißt es dann: Die Hartz-IV-Empfänger verjubeln unsere Steuern.
Wollen Sie sagen, Missbrauch gibt es nicht?
Sicherlich gibt es den, aber selbst fünf bis zehn Prozent Missbrauchsfälle würden bei den infrage kommenden Summen den Kohl nicht fett machen. Das Getöse um die Frage, ob Hartz-IV-Empfänger Sozialschmarotzer sind oder nicht, lenkt davon ab, was am anderen Ende der Gesellschaft passiert. Der durchschnittliche Deutsche hat sein Vermögen zwischen 2002 und 2007 praktisch nicht steigern können, gerade einmal von 15 000 auf 15288 Euro. Anders war dies bei den oberen zehn Prozent mit einem Vermögen von mindestens 222 295 Euro, die um 6,6 Prozent zulegen konnten. Und richtig gewonnen hat in dieser Zeit das eine Prozent an der Spitze, mit Vermögen ab 817 181 Euro netto. Sie haben in fünf Jahren zehn Prozent dazugewonnen. Das heißt, dass dieser sehr kleine Teil der Bevölkerung, der nahezu ein Viertel des gesamten Vermögens in Händen hält, fast 150 Milliarden dazugewonnen hat. Darüber wird nicht geredet; dabei wäre es doch naheliegend zu fragen, ob nicht sie ihren Anteil leisten müssten. Schließlich hat die staatliche Rettung der Banken vor allem ihr Geld gesichert.
Danach müsste die Masse der Steuerzahler fragen.
Das zu verhindern ist der Sinn all dieser Äußerungen. Die Mittelschichten sollen glauben, mit denen oben in einem Boot zu sitzen. Sloterdijk weitete seinen Begriff der Leistungsträger von Interview zu Interview mehr aus, selbst Westerwelle spricht inzwischen von der Krankenschwester, die man in Schutz nehmen müsse gegen die Hartz-IV-Empfänger, die von ihren Steuern lebten. Es gibt einen massiven Versuch, die Fronten so zu ziehen. Und er scheint zu funktionieren.
Das Gespräch führte Andrea Dernbach.
Michael Hartmann, Jahrgang 1952, ist seit 1999 Professor für Soziologie an der TU Darmstadt und forscht zu sozialer Ungleichheit und über Bildung und Erziehung in Deutschland.