Jürgen Trittin über Schröder-Biografie: Deutschland wurde unter Gerhard Schröder erwachsen
Durch Rot-Grün ist sich Deutschland seiner Rolle in der Welt bewusst geworden: Eine Rezension von Gregor Schöllgens Schröder-Biografie.
Im 10. Jahr ihrer Kanzlerschaft hat Angela Merkel heute einen schönen Termin. Sie stellt „Gerhard Schröder“ vor. Verfasst wurde die offizielle Biografie ihres Vorgängers vom Haushistoriker des Auswärtigen Amtes, Gregor Schöllgen.
Anders als Gerhard Schröder neigt Merkel nicht dazu, ihre Gefühle öffentlich auszubreiten. Doch dieser Termin dürfte ihr Freude machen. Ein Jahrzehnt im Kanzleramt sind zehn Jahre Widerlegung Schröders, der ihr am Wahlabend des 18. September 2005 prophezeite, dass sie nie Bundeskanzlerin werden würde. Man kann drauf wetten, dass Schröder dies ansprechen wird – um sich zu rühmen, wie sehr er ihr damit geholfen hat. Mussten sich doch Unionsmänner, die schon an ihrem Stuhl sägten, mit ihr solidarisieren.
Zaudern? Gerhard Schröder?
Aus Niederlagen Siege zu machen – das zeigt eine der Stärken Schröders, in dessen Lebensläufen nie der Hinweis fehlen darf, er hätte mal als Acker den Mittelstürmer des TuS Talle gegeben. Kopf runter, Schulter nach vorn – so sah er sich selbst am liebsten. Die Geschichte darf natürlich auch in der 1000-Seiten Biografie Gregor Schöllgens nicht fehlen. Und sie zeigt gleich ein Problem. Schöllgen wollte bei aller Solidität der Arbeit, des Umfangs der Quellen und bisher nicht genutzter Dokumente und Aussagen Gerhard Schröders Leben nacherzählen.
Doch der Erzähler steht immer in der Gefahr, von empathischer Neugier in ein Stück Heldenverehrung abzurutschen. Davor schützen Quellen, aber im Leben Gerhard Schröders wurden so viele Heldengeschichten von ihn verehrenden Journalisten geschrieben, dass dieser Schutz nur bedingt funktioniert. Schöllgen erwähnt selbst die Geschichte des verstorbenen Jürgen Leinemann, der nach 1986 eine Zeit lang im „Spiegel“ nicht mehr über Schröder schreiben durfte.
Was Schöllgen nur anreißt, ist das Bild des Zauderers Gerhard Schröder. Zaudern? Gerhard Schröder? Der immer schon in der Tür stand, bevor er anklopfte, wie es ein Karikaturist einmal zeichnete? Der Schröder, der nicht abwarten kann, bis ihn die Kanzlerin zu North-Stream schickt, sondern sich ungeduldig von Freund Putin einladen lässt – ein Zauderer?
Die Grünen sind unter Schröder vor allem zur langweiligsten Partei in Deutschland geworden, die visionslos alles mitgemacht hat, was ihr vom Choleriker im Kanzleramt vorgesetzt wurde.
schreibt NutzerIn peeka
Ja, bei allem Rütteln am Zaun des Kanzleramtes zu Bonn, es gab diese Momente des Zauderns. Da war die Kehrtwende mitten im Wahlkampf 1986 als er Rot-Grün eine Absage erteilte und so – auf Ansage von Johannes Rau – dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht eine Laufzeitverlängerung ermöglichte.
Da war der Konflikt um die U- Boote für Taiwan 1992, als er von Karl Ravens dazu gebracht werden musste, trotz der Zurückweisung seiner Forderung durch SPD und Grüne im Amt zu bleiben. „Die Biografie“ macht daraus einen Sieg.
Siegreich wird auch sein Umfallen bei der Abschaffung des Asylrechts im gleichen Jahr geschildert. Verblüffend, wie sehr sich seine Argumente damals mit denen eines Winfried Kretschmann heute gleichen. Damals wie heute wurde – unter dem Druck der Flüchtlingskrise in den Gemeinden – in der Substanz die auf Abschreckung setzende Linie der Union übernommen. Mit einem Unterschied: Damals stimmte das Land Niedersachsen dem von eigenen Ministerpräsidenten ausgehandelten „Kompromiss“ im Bundesrat nicht zu, weil die Grünen die Koalitionskarte gezogen hatten.
Die Große Koalition war nicht die Rettung der SPD
Lange widmet sich Schöllgen jedoch einem anderen Moment des Zauderns. Als Schröder 2005 den Parteivorsitz an Franz Müntefering abgab, war das der Anfang vom Ende seiner Kanzlerschaft. Dass nach der verlorenen Nordrhein-Westfalen-Wahl voreilig Neuwahlen ausgerufen wurden, war nichts anderes als aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen.
Natürlich gab es massive Kritik an der Agenda 2010. Doch hatten nicht gerade die Grünen zwischen 1998 und 2002 nach Kosovo und Afghanistan bewiesen, dass man selbst den Verlust der Hälfte der eigenen Wählerschaft durch Beharrlichkeit und Überzeugen zurückgewinnen kann?
2005 trat Gerhard Schröder ab, wie er immer aufgetreten war
Schröder muss man zugutehalten, dass er es war, der 2005 am Ende noch die Regierungsbeteiligung der SPD gerettet hat. Er trat ab, wie er immer angetreten war – auf Augenhöhe mit der Union. Doch die Große Koalition war nicht die Rettung der SPD. Mit Münteferings Rente ab 67 rutschte sie von 35 auf unter 25 Prozent – und dort steht sie noch heute.
Dabei hat Gerhard Schröder Beachtliches für dieses Land geleistet. Die zur Rechten, die ihm und seiner Partei übelwollen, loben ihn scheinheilig für die Agenda 2010 und den Kosovo-Krieg. Dass aber Deutschland heute innerlich anders dasteht und international dieses Ansehen genießt, ist mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders und der rot-grünen Koalition verbunden. Einer Koalition übrigens, die Gerhard Schröder nie romantisch als „Projekt“ gesehen hat. Für ihn waren Koalitionen Zweckbündnisse auf Zeit mit der Hoffnung auf Vorteil für die eigene Partei.
Heute reiben sich viele Menschen hier und im Ausland erstaunt die Augen. In Deutschland gibt es neben hasserfüllten Neonazis und ihren terroristischen Brandanschlägen eine breit getragene Willkommenskultur für Flüchtlinge. Nun, das Staatsangehörigkeitsrecht wurde unter Rot-Grün ebenso verändert, wie es mit einem Kanzler Schröder auch das erste Zuwanderungsgesetz gab.
Heute muss die CDU Mitgliederbefragungen zur Homo-Ehe durchführen. Rot-Grün brachte die schwulen und lesbischen Lebenspartnerschaften auf den Weg. Im vergangenen Jahr wurden mit 143 Gigawatt weltweit zum ersten Mal mehr erneuerbare Kraftwerke ans Netz gebracht als fossile. Das wäre ohne den Atomausstieg und das Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht möglich gewesen. Diese Leistung des Bundeskanzler Schröder wollte Angela Merkel zurückdrehen. Sie brauchte sechs Jahre Kanzlerschaft und Fukushima, um zu begreifen, dass sich die Energiewende nicht einfach rückabwickeln lässt, selbst wenn man dafür Mehrheiten im Bundestag hat.
Unter Schröder wurde Deutschland sich seiner Rolle in der Welt bewusst
Die Regierung Schröder aber hat vor allem eines geschafft – Deutschland ist sich seinem Gewicht, seiner Rolle und seiner Verantwortung in der Welt bewusst geworden. Am zugespitztesten geschah dies durch das von Deutschland zusammen mit Frankreich und Russland organisierte Nein des UN-Sicherheitsrats zu Georg W. Bushs Krieg gegen den Irak. Einem Krieg, für den damals Angela Merkel noch in Washington warb. Das Nein zum Irak-Krieg war leider nicht erfolgreich. Unter Bruch des Völkerrechts haben die USA den gesamten Nahen Osten destabilisiert. Mit den schrecklichen Folgen, die wir heute erleben. Aber dieses Nein war trotzdem erfolgreich, weil es die Fiktion eines einheitlichen Westens aufhob. Nicht zum Schaden der transatlantischen Verbundenheit – sondern um Europas und Deutschlands Verantwortung in einer multipolar gewordenen Welt gerecht zu werden.
Die gesamte Koalition hätte gerne den Krieg im Kosovo vermieden und hoffte darauf. Aber es war allen klar, dass Europa es nicht anderen überlassen konnte, die Rückkehr von Gewalt und Vertreibung nach Europa zu unterbinden. Wenn Deutschland heute in der Lösung der Ukraine-Frage die entscheidende Rolle spielt, an der auch die USA nicht vorbeikommen, dann hat das auch mit dieser Entscheidung zu tun.
Doch es waren nicht nur Kosovo und Irak. Es war die Solidarität mit den USA nach 9/11 genauso wie die gegen die USA im gleichen Jahr durchgesetzte Ratifizierung des Kyoto-Abkommens.
Wenn international heute nicht nur bei den Iran-Verhandlungen ein Format wie E3+3 gefragt ist, dann hat dies mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders zu tun. Schöllgen formuliert es so: „Mit Rot-Grün bringt das vereinigte Deutschland die politische Pubertät hinter sich.“ Wer hätte das von Acker gedacht?
Der Autor ist Bundestagsabgeordneter der Grünen. Er war von 1998 bis 2005 Bundesumweltminister.
Jürgen Trittin