Trotz des Taliban-Vormarschs in Afghanistan: Deutschland will an Abschiebungen festhalten
Abschiebungen nach Afghanistan sollen weiter möglich sein – das fordern Deutschland und fünf weitere EU-Staaten.
Trotz des Vormarschs der radikal-islamistischen Taliban bestehen mehrere EU-Länder – darunter auch Deutschland – auf einer grundsätzlichen Beibehaltung von Abschiebungen nach Afghanistan. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und sein österreichischer Amtskollege Karl Nehammer gehören zu den sechs Unterzeichnern eines Briefes an die EU-Kommission, in dem vor einem Anstieg der Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan gewarnt wird.
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Eine Beendigung der Abschiebungen „sendet das falsche Signal und wird wahrscheinlich sogar noch mehr afghanische Bürger dazu bringen, sich von ihrer Heimat in die EU aufzumachen“, heißt es in dem Brief an EU-Kommissionsvizechef Margaritis Schinas und Innenkommissarin Ylva Johansson. Neben Deutschland und Österreich haben sich auch Dänemark, die Niederlande, Belgien und Griechenland dem Appell angeschlossen.
In dem Schreiben beziehen sich die Vertreter der sechs Staaten auf eine Verbalnote der afghanischen Regierung von Anfang Juli, in der aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage ein Moratorium für Abschiebungen während der Dauer von drei Monaten verlangt wurde. Die sechs EU-Staaten forderten die EU-Kommission auf, mit den Partnern in Afghanistan einen „intensiven Dialog“ über sämtliche Migrationsfragen – mitsamt der Frage der Abschiebungen – zu führen.
Der für Migration zuständige belgische Staatssekretär Sammy Mahdi twitterte, dass nicht automatisch alle Flüchtlinge eines Landes schutzbedürftig seien, weil dort in einigen Regionen Gefahr drohe. Auch Mattias Tesfaye, der als niederländischer Minister für Integration den Appell ebenfalls unterzeichnet hatte, begrüßte die Initiative im Nachhinein.
Ein Sprecher der EU-Kommission wies am Dienstag darauf hin, dass die Entscheidung über mögliche Abschiebungen bei den Mitgliedstaaten liege. Finnland und Schweden hatten die Rückführung abgelehnter Asylbewerber ausgesetzt, während Staaten wie Deutschland, Österreich und Dänemark daran im Grundsatz festhalten wollen. In Deutschland war zuletzt Anfang August ein Abschiebeflug wegen eines Bombenanschlags der Taliban in Kabul abgesagt worden.
Asselborn: „Da kann ich nur den Kopf schütteln“
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn kritisierte den Appell der sechs EU-Staaten an die EU-Kommission. „Da kann ich nur den Kopf schütteln“, sagte er dem Tagesspiegel. „Es gibt keine Garantie dafür, dass die Betroffenen nicht in die Hände der Taliban fallen“, sagte er zur Begründung. Eine Diskussion über mögliche Abschiebungen sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der angespannten Sicherheitslage in Afghanistan verfehlt. Statt dessen müsse es jetzt vorrangig darum gehen, Ortskräften, die unter anderem die EU und die Vereinten Nationen unterstützt hatten, in der EU Zuflucht zu gewähren, sagte Asselborn weiter.
Nouripour: Druck aus Europa ist destruktiv
Auch der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour wandte sich gegen die Initiative der sechs EU-Staaten. „Die Taliban überrennen gerade das Land, es gibt täglich Anschläge auf zivile Einrichtungen“, gab er zu bedenken. „Da ist der Druck aus Europa auf die afghanische Regierung nicht nur weltfremd, sondern schlicht destruktiv“, so Nouripour.
Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen forderten die Bundesregierung unterdessen auf, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen. „Auch Deutschland darf die Augen vor der sich immer weiter verschlechternden Lage in Afghanistan nicht verschließen und muss alle Abschiebungen einstellen“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung, die unter anderem von Pro Asyl, der Caritas und der Arbeiterwohlfahrt unterzeichnet wurde.
Die Organisationen erinnern in ihrem Appell an eine Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von Anfang August, in der eine Abschiebung aus Österreich nach Kabul mit Verweis auf die dortige Sicherheitslage gestoppt wurde. Die Abschiebung sollte ursprünglich gemeinsam mit Deutschland stattfinden.
Das Bundesinnenministerium stellte sich allerdings anschließend auf den Standpunkt, dass es sich bei der Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshof um einen Einzelfall handele. Derzeit wird der so genannte Lagebericht des Auswärtigen Amtes überarbeitet, der die Sicherheitslage in dem Land beschreibt und damit die Grundlage für mögliche Abschiebungen bildet. Kritiker werfen der Bundesregierung vor, in dem Lagebericht bislang noch nicht auf die gegenwärtige Offensive der Taliban eingegangen zu sein.
EU-Innenminister beraten am 18. August
Die Lage in Afghanistan dürfte auch bei einer Videokonferenz der EU-Innenminister am 18. August zum Thema werden. Die Konferenz war ursprünglich einberufen worden, nachdem der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko Flüchtlinge aus dem Irak und weiteren Ländern nach Litauen weitergeschickt hatte. Mit Blick auf Afghanistan forderten Seehofer und seine Amtskollegen in dem Brief an die Kommission, es müsse das gemeinsame Ziel der EU-Staaten sein, dass eine Versorgung von Flüchtlingen aus Afghanistan in den Nachbarländern in der Region gewährleistet werde. Zu diesem Zweck solle die Zusammenarbeit mit Afghanistan und mit Nachbarstaaten wie Pakistan und Iran bei der Kontrolle von Migration und dem Grenzschutz verstärkt werden.