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Das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins erinnert an die sechs Millionen ermordeten Juden Europas.
© Thilo Rückeis/TSP

Vor Steinmeiers Besuch: Deutschland und Israel zwischen Freundschaft und Eklat

Immer wieder wird betont, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für Israel hat. Doch nun hat sich erneut gezeigt, wie kompliziert die Beziehung ist. Der Bundespräsident will jetzt deeskalieren.

Wird unser Verhältnis zu Israel nie normal? Wie kann es das werden, angesichts von sechs Millionen Toten? Es kann aber immer noch besser werden. Dann, wenn es die nachfolgenden Generationen als selbstverständlich ansehen, die Verantwortung auf eine neue Ebene zu heben: sie als Aufforderung zu verstehen, die Welt noch mehr moralischen Prinzipien entsprechend zum Guten verändern zu helfen. Nach Kräften, mit Empathie und Wertschätzung und zudem einem aus der Vergangenheit in die Zukunft hinüberragenden Wertekompass neue Verbindlichkeit zu schaffen. Will sagen: Sie dürfen nicht nachlassen, der grassierenden Politik der Ein-Eindeutigkeit, der Unterkomplexität à la Le Pen oder Trump eine entgegenzuhalten, die skrupulös abwägt. Die sich der Bedeutung von Worten und Taten bewusst ist.

In einer noch komplexer gewordenen Welt ist der Wunsch nach einfachen Lösungen eine gefährliche Verführung. Davor ist der besser gefeit, bei dem eine Haltung des „Nie wieder“ tief verwurzelt ist. Dass diese Haltung anerkannt wird, zeigt sich schon heute. Deutsche Außenpolitik, Entspannungspolitik, wie sie geprägt worden ist von Hans-Dietrich Genscher, bildet den nötigen Traditionsrahmen. Wie sich immer aufs Neue seither gezeigt hat. Und so wird den Deutschen insgesamt attestiert, nicht nur die Lehre aus der Vergangenheit immer wieder neu zu ziehen.

Ärgernis Gabriel, wahre Freundin Merkel

Das gegenseitige Vertrauen reicht so weit, dass Benjamin Netanjahu, Israels bulliger Premierminister, auf der einen Seite mit Deutschlands Außenminister Sigmar Gabriel einen Händel anfängt, ihn nicht treffen will und damit einen Affront wagt. Auf der anderen Seite aber das von ihm geführte Außenministerium den Präsidenten des Landes, Reuven Rivlin, nicht davon abhält, Gabriel zu empfangen. Und das, obwohl Netanjahu dazu nicht nur fähig, sondern auch berechtigt wäre, weil diese Treffen mit ihm abgesprochen werden; immerhin ist Gabriel auf einer anderen protokollarischen Ebene. Das sagt aus, dass Netanjahu das grundsätzliche Einvernehmen, das seit dem ersten Bundeskanzler, seit Konrad Adenauer also, besteht, nicht gefährden will.

Hinzu kommt, wie er in Deutschlands wirkmächtigem Blatt „Bild“ die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel als wahre Freundin Israels gelobt hat. Das Vertrauen in ihre Garantie der Sicherheit des Staates Israel, die deutsche Staatsräson sei, ist in den zurückliegenden Jahren eher noch gewachsen, zumal diese Sicherheitsgarantie hierzulande von allen wesentlichen Politikern getragen wird. Wie hoch das Vertrauen ist, zeigen regelmäßig positive Umfragen. Zeigt die Tatsache, dass bis zu 20.000 Israelis im Jahr in Berlin sind. Gerne. Zeigt, dass Experten in Israel Antisemitismus in Deutschland für erheblich geringer als in allen anderen großen europäischen Ländern halten. Und dass sie Deutschland in der Hinsicht großes Vertrauen schenken.

Keine Freundschaft zwischen "Bibi" und "Sigi"

Doch was wäre ein normales Verhältnis in heutiger Zeit überhaupt? Das hängt nun wiederum ganz davon ab, ob es sich um einen sogenannten befreundeten Staat handelt oder um einen, zu dem Deutschland Beziehungen unterhält – oder auch keine. Allein schon diese Unterscheidung, politisch wie diplomatisch, zeigt den Pfad hin zur „Normalität“. Insofern lässt sich heute sagen, dass in dieser Hinsicht, einer eher technischen, das Verhältnis schon auch normal ist. Israel ist ein befreundeter Staat und Partner und wird entsprechend behandelt. Diplomatisch. Mit der einen Ausnahme vielleicht, dass die Botschaft nicht in der Hauptstadt, nicht in Jerusalem, angesiedelt ist, sondern aus politischen Gründen in Tel Aviv.

Hinzu kommt: Nach dem Satz, manche sagen Lehrsatz, des britischen Diplomaten Lord Palmerston haben Staaten keine Freunde, sondern nur Interessen. Dementsprechend wäre der Begriff der Freundschaft eine nicht weiter fassbare Kategorie. Allerdings kann die Freundschaft zwischen Politikern ein Verhältnis verändern. Persönliche „Chemie“ ist es, die dann solche Fortschritte bringt, dass ein Verhältnis, das vorher nicht als normal bezeichnet werden konnte, sich entwickelt. Helmut Kohl und sein Verhältnis zu Michail Gorbatschow und Boris Jelzin sind berühmte Beispiele. Von einer Freundschaft zwischen Benjamin „Bibi“ Netanjahu und Sigmar „Sigi“ Gabriel kann nicht die Rede sein. Auch nicht von einer zwischen Angela Merkel und Netanjahu. In diesem Fall ist es dann doch so, dass eher die Staaten institutionell miteinander befreundet sind, und die Menschen, je mehr, desto besser. Das ist der normale Gang der Freundschaft.

Eine besonders sensible Zeit für Israel

Im Vergleich der vergangenen Jahrzehnte stehen wir heute an einer Wegscheide. Auch in Freundschaften können Belastungen auftreten, die das Verhältnis so nachhaltig trüben, dass es sich verändert – es sei denn, beide Seiten sind klug genug, zwei Sätze mehr miteinander zu sprechen, als sie ursprünglich vorhatten. So ist es gerade: Netanjahu hat das Treffen mit Gabriel abgesagt, weil beide einander nicht verstanden haben. Und auch nicht verstehen lernen konnten, eben weil das Gespräch darüber unterblieb. Der eine verstand nicht, oder will nicht verstehen, dass der andere es als normal erachtet, sich von einer politischen Lage das ganze Bild zu machen; der andere nicht, dass es Situationen und Tage im Leben eines Staates geben kann, die nicht nur für die Politik konstitutiv sind.

Diese Zeit jetzt, die Tage vom Holocaustgedenken bis hin zum Nationalfeiertag, ist in diesem Sinn eine besonders sensible für die Menschen in Israel. Dazu ist Netanjahu ein Politiker, der – mit allen Wassern gewaschen, mit allen politischen Zügen, auch Winkelzügen vertraut – durch die Demonstration von vermeintlicher Stärke seine Macht erhalten will. Das nahezu unbedingt. Auf diese Weise ist er in wechselnden Koalitionen mit schwierigen Partnern an der Spitze geblieben.

Sollten die gegenwärtigen Korruptionsvorwürfe nicht verfangen, ist nicht mit einer Abwahl zu rechnen, die konkurrierende Sozialdemokratie sucht zur Zeit unter neun Bewerbern den Parteichef, der nicht notwendigerweise auch der nächste Herausforderer sein muss. Außerdem bietet sie sich von Zeit zu Zeit selbst als Koalitionspartner an. Gerade regiert Netanjahu mit 67 von 120 Stimmen in der Knesset in einer Multiparteienkoalition, und es sind die auf der äußersten Rechten unter dem jungen Naftali Bennet, die Netanjahu unter Druck halten. Denen will er durch markige Worte und Gesten Grenzen aufzeigen. Dafür kann der Premier trotzdem nicht von allen Verständnis erwarten, weder im Land noch international.

Latentes Misstrauen gegen Gabriel

Wie groß ist nun der Schaden durch Gabriels Äußerungen? Einerseits so groß, dass Netanjahu über das Gespräch mit „Bild“ Nähe zu den Millionen in Deutschland sucht, um deren Meinung zu beeinflussen. Das wirkt nicht nur ungewöhnlich, sondern wird auch als konfrontativ verstanden. Andererseits sind in dem Interview zugleich diplomatische Formeln enthalten, die der Politik zeigen, auf wen er baut, um wieder zu deeskalieren: Angela Merkel. Selbst wenn die sich explizit an die Seite ihres Außenministers gestellt hat, wird das zum einen als notwendiges öffentliches koalitionäres Erfordernis angesehen.

Netanjahu und seine Interpreten rechnen aber zum anderen damit, dass die Bundeskanzlerin sein Verhalten besser einordnen kann, seine Flexibilität auch, und dass sie seine innenpolitischen Herausforderungen in ihre Beurteilung mit einbezieht. Sicher zählt Netanjahu auch darauf, dass sie nicht vergisst: Sie stammen beide aus der Familie der konservativen Parteien. Da ist Beistand, und sei er nichtöffentlich, auch eine notwendige Übung. In diesem Fall wäre es Beistand durch Schadensbegrenzung. Was gleichwohl bleibt, ist auf der politischen Rechten ein latentes Misstrauen gegen die deutschen Sozialdemokraten.

Der Bundespräsident muss deeskalieren

Von Frank-Walter Steinmeiers Israel-Besuch ist hingegen Deeskalation zu erwarten. Der neue Bundespräsident ist ein alter Bekannter, er war oft in Israel, in offizieller Funktion wie auch privat. Steinmeiers politische Haltung ist im Wesentlichen nicht anders als die des Außenministers, der er auch lange war – er ist aber vom Wesen her anders als Gabriel, diplomatischer. Wo Gabriel und Netanjahu einander in der Direktheit und Bereitschaft zur Auseinandersetzung ähneln, ähnelt Steinmeier in der Art der Betrachtung und im Umgang mit schwierigen Gesprächspartnern eher Merkel.

Er setzt sich mit ihnen zusammen, Konfrontationen gelangen selten in die Öffentlichkeit, und selbst danach werden Worte gewählt, die Brückenschläge ermöglichen und nicht als Schläge wahrgenommen werden. In dieser Hinsicht ist Steinmeiers Reise zum jetzigen Zeitpunkt geradezu ideal terminiert. Soll der Bundespräsident auch keine operative Politik betreiben, so kann er doch zur großen Politik beitragen. Wenn er, diplomatisch erfahren, wie Steinmeier ist, zum Wesentlichen einen Beitrag leistet: die Bedeutung der Beziehungen zu Israel im Lichte einer Lösung des Nahostkonflikts hervorzuheben. Vor allem in diesem Konflikt muss dringend deeskaliert werden.

Was Israelis über Merkel und Deutsche über Netanjahu denken

In Israel, einem naturgemäß hochpolitisierten Land, hat die Bundeskanzlerin sich höchsten Respekt erworben. Ihre Haltung gilt als klar, ihre Sicherheitsgarantie als unverrückbar. Außerdem macht Merkels ruhige Vernunft und freundliche Abgeklärtheit im Umgang mit bulligen Politikern vom Schlage Netanjahu Eindruck, hinzu kommt die weltwirtschaftliche Stärke und politische Bedeutung Deutschlands. Nach dem Motto: So geht es also auch. Dass sie eine Frau ist, wird registriert, ist aber im Rahmen des Selbstverständnisses der Israelinnen, für die Beruf und Familie bei im Durchschnitt drei Kindern der Normalfall sind, kein herausragendes Thema. Außerdem hatte Israel selbst bereits im vorigen Jahrhundert eine, wenn auch nicht vergleichbare, starke Regierungschefin, Golda Meir.

In Deutschland hat Netanjahu einen denkbar schlechten Ruf, und das von links bis rechts. Bei allem Respekt für die Dauer seiner Zeit als Premier – elf Jahre insgesamt. Und da stehen nicht die Korruptionsvorwürfe im Vordergrund. Vielmehr ist es zum einen immer wieder seine harte Haltung in der Palästinenserfrage. Im Siedlungsbau geht er bis an die Grenzen und zuweilen über die Grenzen des international Vereinbarten hinaus, womit er Kritik bis hinein in die Vereinten Nationen und Sanktionen riskiert.

Trump, Netanjahu und die Zweistaatenlösung

Darüber hinaus wirkt er, was die Bereitschaft zu direkten Verhandlungen mit den Palästinensern angeht, in seinen Positionen strikt bis starr; unabhängig davon, dass Vorschläge, die Entgegenkommen signalisieren, nicht immer wahrgenommen werden, weder hierzulande, noch in den UN oder bei den Palästinensern. Der Stand zur Zeit ist: Netanjahu ist jederzeit bereit zu einem Gespräch mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, am besten unter der Schirmherrschaft von US-Präsident Donald Trump, der Ende Mai nach Jerusalem kommen wird. Voraussetzung für die Zweistaatenlösung ist für Netanjahu, dass die Palästinenser – alle, nicht nur die Fatah – das Existenzrecht Israels anerkennen. Auch ihre Demilitarisierung in einem eigenen Staat strebt er an.

Die Zusicherung, an Israels Seite zu stehen, ist deutsche Staatsräson. Dahinter geht nichts mehr zurück. Bei aller Kritik, unabhängig von jedem Affront – jede deutsche Regierung wird für die Sicherheit des Staates Israel einstehen, ob links oder rechts. Das ist die historische Verantwortung des Landes der Täter. Auch der Einsatz von Bundeswehrsoldaten als „Ultima Ratio“ wäre kein Tabu.

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