Notunterkünfte für Flüchtlinge: Deutschland, deine Zelte und Container
Einst undenkbar, heute die Regel: Flüchtlinge müssen in Deutschland vielerorts in Notunterkünften untergebracht werden. Die meisten Behörden sind überlastet – in Sachsen wird das auch offen zugegeben.
Die Bilder sind den meisten Deutschen nur aus dem Fernsehen bekannt: Weit weg in Afrika oder Asien schwenken Kameras über riesige Zeltstädte, in denen tausende Flüchtlinge leben, die vor Kriegen und Dürren geflohen sind. Kaum sanitäre Einrichtungen, keine Privatsphäre und schutzlos Hitze und Regen ausgeliefert. Nun entstehen diese Zeltstädte auch in der Nachbarschaft.
In Hamburg, in Kassel, in Bremen, in Bayern und an vielen anderen Orten Deutschlands greifen die Behörden zu einem Mittel, das Politiker bis vor wenigen Wochen noch als unzumutbar und einem reichen Land wie Deutschland unwürdig ablehnten: Sie bauen Zeltstädte auf, um darin Flüchtlinge unterzubringen, die in bisher ungeahnter Zahl nach Deutschland drängen.
Als im brandenburgischen Eisenhüttenstadt vor ein paar Wochen erste Zelte für Flüchtlinge entstanden, da glaubten Behörden und Anwohner noch, dass das die absolute Ausnahme sei. 300 Flüchtlinge wohnen seither in der Erstaufnahmeeinrichtung, und nächste Woche wird an einer anderen Ecke der kleinen Stadt an der polnischen Grenze eine weitere Zeltstadt errichtet, noch einmal für 500 Einwohner. Containersiedlungen bauen dauert zu lange.
In den meisten Fällen betreibt das Rote Kreuz die Zeltstadt
In den meisten Fällen ist das Deutsche Rote Kreuz (DRK) als Betreiber der Zeltstädte im Einsatz. Das DRK hat Erfahrungen mit der Unterbringung und Versorgung von vielen Menschen. In den vergangenen drei bis vier Wochen nehmen die Anfragen dramatisch zu, wird dort berichtet. Laufend gehen von einzelnen Landesverbänden Hilferufe in der Zentrale in Berlin ein: Material dringend gesucht. Schon gibt es Engpässe bei Zelten, Matratzen oder Sanitäreinrichtungen.
In Dresden begannen Rotes Kreuz und Technisches Hilfswerk am Freitag in mit dem schnellen Aufbau einer Zeltstadt für rund 1100 Flüchtlinge – mitten in der Stadt, auf einem Gewerbegrundstück, das dem Freistaat Sachsen gehört. Am Abend zuvor wurden rasch ein paar Handzettel zur Information an die Bewohner in der Umgebung verteilt. Nur kurze Zeit später wurden die ersten Protestierer von der Polizei abgedrängt. Im Amt des Dresdner Oberbürgermeisters hieß es: „Auch wir wurden erst Donnerstagabend über die Pläne informiert.“ Und: Es wäre natürlich besser gewesen, wenn die Kommune rechtzeitig davon erfahren hätte.
Verantwortliche kann man kaum finden, überall herrscht Not. Die in Sachsen für die Unterbringung von Flüchtlingen in Erstaufnahmeeinrichtungen verantwortliche Behörde bekennt ganz offen Überforderung. Täglich 200 bis 300 Flüchtlinge würden dem Land von der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zugewiesen, man werde des Problems kaum Herr. Zeltunterkünfte gibt es bereits in Meißen, bei Dippoldiswalde und in Chemnitz, wo am vergangenen Wochenende die Kapazitäten deutlich erhöht wurden. Im Juni brachen im Erstaufnahmelager Chemnitz Windpocken aus, neue Flüchtlinge durften nicht aufgenommen werden, mussten anderswo in Deutschland untergebracht werden. Vergangene Woche dann wurde die Zuweisungssperre aufgehoben und die Bundesbehörde teilte mit, dass alle von Sachsen in der Quarantänezeit nicht aufgenommenen Flüchtlinge – insgesamt 1300 – nun zur Entlastung anderer Bundesländer auf einmal aufgenommen werden müssen. Freie Unterbringungsmöglichkeiten für so viele Menschen gibt es in ganz Sachsen längst nicht mehr, Mitte der Woche wurde schließlich entschieden, dass in Dresden Zelte für 1100 Flüchtlinge aufgebaut werden.
Beim DRK heißt es: Das dürfen maximal Notunterkünfte sein, zeitlich sehr eng begrenzt. Doch die Verantwortlichen vor Ort glauben daran nicht mehr. Hier macht man sich schon Gedanken darüber, wie die Flüchtlinge im November leben sollen, wenn es eisig wird. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) hat für diese Probleme den Bau von Discounter-Gebäuden ins Spiel gebracht, ähnlich denen, die Aldi und Lidl errichten: trocken und warm. Allerdings müssten dafür in den Ländern die Bauordnungen geändert werden.
Auch Deutschlands zweitgrößte Stadt, Hamburg, stößt an ihre Grenzen. Vor einem Jahr kamen noch monatlich 400 neue Flüchtlinge, derzeit sind es bis zu 300 täglich. Innensenator Michael Neumann (SPD) kündigte an, dass Hamburg künftig über das Stadtgebiet verteilt sieben Erstaufnahmeeinrichtungen in Form von Containerdörfern mit jeweils bis zu 3000 Plätzen aufbauen wolle. Dies soll geschehen, um so schnell wie möglich Winterlösungen für die bestehenden Zelteinrichtungen zu schaffen. Das größte Erstaufnahmelager mit rund 1700 Plätzen ist derzeit auf einem Parkplatz neben dem Fußballstadion des Bundesligisten Hamburger SV aufgestellt. Dort müssen teilweise bis zu 30 Flüchtlinge in einem Großzelt campieren, sie kommen nachts kaum zur Ruhe.
In Hamburg gerät das für die Verteilung befasste Verwaltungspersonal an seine Grenzen
Wer die Stadt kennt, hat seine Zweifel, ob sich überhaupt genügend geeignete Standorte für Neumanns Idee finden. Neuester Vorschlag: das Areal der Horner Rennbahn, wo traditionell einmal pro Jahr eineinhalb Wochen die Galopper-Derbytage stattfinden. Über das Hamburger Polizeirecht kann binnen kürzester Zeit jede öffentliche Fläche umfunktioniert werden, ohne mögliche juristische Widerstände zu fürchten.
Längst ist in Hamburg – wie in anderen Kommunen übrigens auch – das mit der Unterbringung und Verteilung der Flüchtlinge befasste Personal der öffentlichen Verwaltung an seine Grenzen geraten. Beim städtischen Hamburger Betreuungsdienst „fördern & wohnen“ sind allein 40 Planstellen vakant, bis zum Jahresende hat man trotzdem einen Bedarf von 220 weiteren Stellen ausgemacht. Eine hohe Fluktuation der Mitarbeiter, ein hoher Krankenstand lassen eine schlechte Motivationslage erahnen und machen die Situation nicht besser. Über 300 Millionen Euro hat Hamburg für die Flüchtlingsbetreuung in seinem Haushalt reserviert.