Migrationspolitik: Deutsche Stiftungen werben für Einwanderung
Ton, Steine, Sarrazin: Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration rät in seinem Bericht zu einer aktiven Einwanderungspolitik - und räumt mit bisher vorherrschenden Migrationsmythen auf.
Alle reden von Integration. Migration, Ein- und Auswanderung ist in der Regel ein Anhängsel der Debatte. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) hat sich seiner nun im Jahresgutachten für 2011 angenommen. Die Bestandsaufnahmen und Empfehlungen des 259 Seiten starken Berichts legen den Schluss nahe, dass Deutschland aktive Einwanderungs- noch nötiger haben könnte als schlagzeilensatte Integrationspolitik.
Die politischen Schwerpunkte sehen die acht Wissenschaftler im Rat derzeit falsch gesetzt: „Die Vorstellung, Deutschland müsse sich vor Zuwanderung in größerem Umfang schützen, ist nicht nur empirisch falsch, sondern geradezu kontraproduktiv“, heißt es im Gutachten. Angebliche Flüchtlingswellen würden hoch-, der tatsächliche „Braindrain“, die Abwanderung Hochqualifizierter aus Deutschland, dagegen schöngeredet.
Anders als in anderen Hochlohnländern wie der Schweiz, Norwegen, Kanada und den USA entwickelt sich das Verhältnis von Zu- und Abwanderung in Deutschland nämlich seit einiger Zeit negativ: Zwischen 1994 und 2009 zogen mehr als eine halbe Million Deutsche mehr ins Ausland, als von dort zurückkamen. Und die Auswanderer sind zudem die, um die sich die Politik inzwischen im Ausland müht: Die Hälfte (49 Prozent) hat einen Hochschulabschluss – im Bevölkerungsschnitt haben den nur 29 Prozent – und arbeitet im Ausland in qualifizierten Jobs und Führungspositionen. Dass Deutschland attraktiver werden müsse, gelte nicht nur für ausländische Spitzenkräfte, sondern auch für die, die längst hier sind – und immer öfter abwandern.
Gegen die draußen schotte sich die „Festung Europa“ zudem durch eine rigide und oft inhumane EU-Grenzpolitik ab – der Bericht enthält deutliche Kritik am explodierenden Etat und der schwachen parlamentarischen Kontrolle der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Ihre Opfer würden auch Bootsflüchtlinge, deren Qualifikationen man sonst händeringend suche. Klaus J. Bade, Migrationshistoriker und Vorsitzender des Sachverständigenrats, kommentierte die „Abfangflotten“-Politik Europas sarkastisch: „Alle Mann in die Rettungsboote, Diplomingenieure und Ärzte zuerst.“
Aber auch Lob halten die Sachverständigen bereit: Die Bremer Bildungsforscherin Yasemin Karakasoglu nannte die Verlegung obligatorischer Deutschkurse in die Heimatländer – insgesamt ein Trend in EU-Europa, einen grundsätzlich „positiven Schritt“. Und auch insgesamt, so heißt es im Gutachten, bewege sich die deutsche Migrationspolitik inzwischen „in zentralen Bereichen auf einem soliden europäischen Mittelweg.“
Wobei das Zutrauen der Experten in klassische Gesetzgebung zu schwinden scheint: Ein Punktesystem zum Beispiel, heißt es im Bericht, sei zwar „ein tauglicher Baustein, aber kein konzeptionelles Allheilmittel der Migrationssteuerung“. „Deutschland müsse sich runderneuern“, sagte Bade bei Vorstellung des Gutachtens, und dabei gehe es „um mehr als Rechtsfragen“, nämlich um die richtigen Zeichen. „Wir müssen die politischen Sekundärtugenden stärken.“
Die Sarrazin-Debatte bietet aus Bades Sicht ein instruktives (Negativ-)Beispiel dafür. Der SVR habe vor Monaten die „Spuren gelesen, die der trompetende Elefant Sarrazin im Porzellanladen hinterlassen hat“. Ergebnis: Der Integrationsoptimismus bei Migranten in Deutschland war um die Hälfte geschrumpft. „Ein doppeltes Eigentor“, so Bade, für ein Land, das auf kulturelle Toleranz angewiesen sei, um Hochqualifizierte im Ausland anzuziehen – und die im Inland zu halten.
Das Volk, eine Überraschung des Gutachtens, scheint bereit dafür: Der SVR fand heraus, dass die meisten wissen, dass Deutschland Einwanderung braucht. Und sie sind für eine eher großzügigere Aufnahme von Flüchtlingen. Es wäre also an der Zeit, so heißt es im Gutachten, dass Politik und Behörden nicht länger Verstecken spielen „hinter angeblichen Sorgen der Bürger“. Die sind, so scheint es, längst weiter als ihre Repräsentanten.