Nachhaltigkeitsziele: Deutsche Politik ist nicht nachhaltig genug
Beim Artenschutz und bei der Energiepolitik ist Deutschland nicht auf dem richtigen Weg, die selbstgesteckten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Das hat eine Expertenkommission festgestellt.
Höflich im Ton, aber hart in der Sache beurteilt eine internationale Expertenkommission die Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung. Die Gruppe unter der Leitung der ehemaligen neuseeländischen Ministerpräsidentin Helen Clark hatte den Auftrag, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu prüfen.
Zunächst die gute Nachricht: „Deutschland hat durch seinen Reichtum, seine Technologien und die Tradition des Dialogs zwischen gesellschaftlichen Gruppen gute Chancen, seine Nachhaltigkeitsziele zu erreichen“, sagte Clark bei der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung. „Allerdings ist noch viel zu tun, um einen erfolgreichen deutschen Weg hin zu Nachhaltigkeit zu gestalten“, heißt es im Peer Review 2018 zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie.
Am weitesten ab vom Kurs liegt Deutschland in der Energiepolitik. „Der CO2-Ausstoß im Verkehr und beim privater Konsum ist immer noch sehr groß“, sagte Clark. „Außerdem ist der Rückgang der Artenvielfalt ein riesiges Problem.“ Damit stehe Deutschland aber nicht allein da. Und wie in allen Staaten mit einer starken Landwirtschaft sei auch in Deutschland die Qualität des Grundwassers ernsthaft in Gefahr.
Auf der sozialen Seite sieht die Expertenkommission die Gesundheit vieler Menschen durch zunehmende Fettleibigkeit bedroht. Doch die Diagnose ist noch breiter: „Wir haben von verschiedenen Stakeholdern gehört und auch der allgemeinen Debatte im Land entnommen, dass Befürchtungen bestehen, dass immer mehr Menschen in Deutschland selbst zurückgelassen werden“, heißt es im Bericht zur sozialen Dimension der nachhaltigen Entwicklung.
Nachhaltigkeit ist mehr als nur Umweltschutz
Das breite Themenspektrum zeigt: Bei Nachhaltigkeit geht es um mehr als nur die Umwelt. Das Konzept um fasst die drei Säulen Umwelt, Wirtschaft und Soziales. Alle sollen so gestaltet werden, dass künftige Generationen ein Leben in Würde und Sicherheit führen können. Die erste Nachhaltigkeitsstrategie stellt die Bundesregierung schon 2002 auf. Nachdem die Vereinten Nationen 2015 ihre 17 nachhaltigen Entwicklungsziele beschlossen hatten, zog Deutschland 2016 mit einer Aktualisierung der Nachhaltigkeitsstrategie nach.
Schon 2009 und 2013 hatte die Bundesregierung die Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung von einer unabhängigen Kommission bewerten lassen. Nun stellt sie sich zum dritten Mal dem Expertenvotum – „eine mutige Entscheidung“ – sagte Helen Clark. Denn die Kritik ist recht massiv, auch wenn die Kommission ihre „Wertschätzung für die große Kompetenz der zahlreichen engagierten Stakeholder und Amtsträger sowie die gut konzipierten Strukturen“ zum Ausdruck bringt.
Die Experten empfehlen, die Ziele ehrgeiziger zu setzen: „Der Klimawandel schreitet mit besorgniserregender Geschwindigkeit fort, weil weltweit – auch in Deutschland – zu wenig dafür getan wird, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren.“ Die Experten ermutigen zum Ausstieg aus der fossilen und nuklearen Energieerzeugung und zu einer nachhaltigeren Energieerzeugung für alle.
Angesichts der großen Herausforderungen – neben den genannten Problemen auch die digitale Revolution, spekulative Preisblasen im Immobilienmarkt, stetig wachsende Mobilität und Sicherheitsprobleme aller Art – sei es nicht einfach, an Inklusion, Vorsorge und Innovation festzuhalten. „Aber es ist notwendig“, stellt die Kommission klar. Jetzt müssten die zuständigen Minister verantwortlich gemacht werden und detaillierte Aktionspläne in den Bereichen vorlegen, in denen Deutschland hinterhinkt, forderte Helen Clark.
"Jetzt ist die Zeit für große Entscheidungen"
Die Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung, Marlehn Thieme, schlug in die gleiche Kerbe. Sie sagte vor der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): „Jetzt ist die Zeit für große Entscheidungen in unserem Land.“
Diesen Erwartungen entsprach Merkel in ihrer Ansprache nicht. Was sie als konkreten Schritt für mehr Nachhaltigkeit ankündigte, steht bereits im Koalitionsvertrag: Ein Klimaschutzgesetz, das 2019 verbindlich festlegen soll, wie die Klimaziele bis 2030 erreicht werden sollen. „Das wird noch ein harter Kampf“, ist sich Merkel im Klaren, denn die Klimaziele für 2030 sind ehrgeizig. Um mehr als die Hälfte sollen die Emissionen im Vergleich zu 1990 bis dahin sinken.
„Gar nicht rumreden“ wollte Merkel um das Ziel aus dem Paris-Abkommen, das in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Treibhausgasneutralität vorsieht. Kein oder nur noch sehr wenig CO2-Ausstoß mehr in der Stromerzeugung, in der Industrie und im Verkehr – das wird tatsächlich ein harter Brocken. Und die Industrienationen müssten hier vorangehen, so Merkel, also noch eher treibhausganeutral sein als andere.
Ob Deutschland vorne mit dabei sein wird? Zweifel sind erlaubt angesichts der bisherigen Klimapolitik Merkels. Bis 2020, so räumte sie ein, bestehe eine „erhebliche Lücke“ zum Erreichen des Klimaziels. Kurz vor der Wahl hatte Merkel noch versprochen, es einzuhalten.
Am heutigen Dienstag soll dann „wahrscheinlich“ die Strukturwandelkommission für den Ausstieg aus der Braunkohle eingesetzt werden, kündigte Merkel an. In den vergangenen Wochen war die Entscheidung immer wieder verschoben worden. Dass die Kommission „ein Enddatum für die Kohlenutzung in Deutschland festlegen wird, ist eine neue Perspektive, die so parteiübergreifend noch nicht eingenommen worden ist“, sagte Merkel. „Nachhaltigkeit gegen große Teile der Gesellschaft durchzusetzen, geht nicht“, baute sie allzu hohen Erwartungen vor. Immerhin sei beim Atomausstieg ja auch ein Konsens gelungen, so wie beim Ausstieg aus der Steinkohle.
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Susanne Ehlerding