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Italien braucht Unterstützung. Hier die Intensivstation im Casal Palocco Krankenhaus bei Rom.
© Alberto PIZZOLI / AFP

Der hässliche Nachbar: Deutsche Gesten für Corona-geplagtes Italien sind dringend nötig

Nicht nur aus humanitären Gründen. Die Deutschen vergessen einmal wieder, dass Europa ihre Lebensversicherung ist. Ein Gastkommentar.

Jörg Wojahn ist Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland

„Bloß kein Geld für Italien“, lautet eine aktuelle online-Schlagzeile eines deutschen Nachrichtenmagazins. Zugleich sammelt in Italien eine neu gegründete Facebook-Gruppe für einen „Italexit“ innerhalb kürzester Zeit über eine Million Follower. Die italienischen Medien sind voll von Bildern chinesischer und russischer Hilfslieferungen. Trotzdem schrillen in Deutschland keine Alarmglocken.

So gerät das europäische Einigungswerk mittelfristig in Gefahr. Und der EU-Binnenmarkt ist kein Lieblingsprojekt von Berufseuropäern wie mir. Der gemeinsame Markt ist die Lebensversicherung der deutschen Wirtschaft. Alle kurzfristig notwendigen Hilfspakete der Bundesregierung für deutsche Unternehmen verblassen demgegenüber. Italien zu helfen ist also zutiefst im nationalen deutschen Eigeninteresse.

Es geht nicht um Coronabonds ja oder nein. Ganz unabhängig davon, was die Bundesregierung, Landesregierungen, Wirtschaftsverbände derzeit aus kurzfristiger nationaler Sicht für richtig oder falsch halten: Deutschland muss in der gegenwärtigen Lage rasche und sichtbare Gesten gegenüber Italien setzen und auch solche auf EU-Ebene erlauben.

Corona-Patienten aus Italien aufzunehmen ist von großer Symbolkraft

Selbst Symbolisches ist im Moment hilfreich. Die Entscheidungen der Ministerpräsidenten von Sachsen, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Berlin, Corona-kranke Italienerinnen und Italiener aufzunehmen, sind gute Beispiele. Tue Gutes – und rede darüber! Moskau und Peking wissen, wie man Zeichen setzt. Deren Ziel ist aber sicher nicht die Wahrung deutscher Interessen oder gar das Wohl der Europäischen Union. Schon beim Brexit haben Desinformationskampagnen aus dem Osten kräftig nachgeholfen, wie wir heute wissen.

Die deutsche Debatte ist stattdessen bisher extrem selbstbezogen: In der Pressekonferenz von Finanz- und Wirtschaftsminister zum großen nationalen Rettungspaket fragte kein Journalist nach Europa. In der Bundestagsdebatte zum Thema: ein ähnliches Bild. Vor lauter Nabelschau drohen die Deutschen die mittelfristigen Risiken für ihre Wirtschaft und ihren Wohlstand völlig zu übersehen.

Im Kampf um Schutzkleidung ist der Groschen mittlerweile gefallen

Nicht nur die Bundesrepublik hat in der ersten Phase der Coronakrise die europäische Dimension kurzfristig aus den Augen verloren: Exporthürden, die EU-Partner in Not von Schutzkleidung abschneiden, Grenzmaßnahmen, die die Versorgung von Menschen und Unternehmen mit Gütern erschweren. Doch zum Glück ist hier bei den meisten der Groschen mittlerweile gefallen. Dazu bedurfte es aber auch der Mahnungen und Warnungen der EU-Institutionen, die Grenzen so weit wie möglich offen zu halten.

Die europäischen Institutionen haben kaum etwas in der Hand, um die Gesundheitssysteme zu stärken – dies haben sich die Mitgliedstaaten immer eifersüchtig vorbehalten. Souveränität! Doch die EU wirkt. Schon Ende Januar haben wir EU-weit Wissenschaftler zusammengebracht und finanziert, die nun vereint gegen das Virus forschen.

Die EU unterstützt die Mitgliedsstaaten, über 300.000 Europäer heimzuholen

Wir haben rasch eine gemeinsame EU-weite Ausschreibung für Schutzmasken und Schutzkleidung gestartet. Es sind reichlich Angebote eingegangen,  die Lieferungen werden in wenigen Wochen erwartet. Die EU unterstützt die Mitgliedstaaten dabei, über 300.000 Europäerinnen und Europäer aus der ganzen Welt heimzuholen.

Auch zur Rettung von Wirtschaft und Arbeitsplätzen hat die Europäische Zentralbank die nötigen Maßnahmen sofort ergriffen. Die EU hat zudem Milliarden von Euro an Hilfen mobilisiert – selbst wenn es nie so viele Milliarden sein können, wie sie Staaten wie Deutschland zur Verfügung haben. Das EU-Budget beträgt 2020 rund 169 Milliarden Euro – der Bundeshaushalt allein 362 Milliarden, und da sind Länder, Kommunen und Sozialkassen noch gar nicht eingerechnet. Und anders als der Bund darf die EU keine Schulden machen. Was Bund, Länder und EU aber schon jetzt gemeinsam machen müssen: über den deutschen Tellerrand hinausblicken und die Zeit nach der Krise vorbereiten.

Jörg Wojahn

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