75 Jahre nach Überfall auf Sowjetunion: Deutsche Erinnerungskultur hat gravierende Lücken
Am 22. Juni 1941 begann das "Unternehmen Barbarossa". Der Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion ist in Deutschland kein offizieller Gedenktag. Das ist falsch. Ein Gastbeitrag.
Das Gedenken an die schweren und düsteren Kapitel der eigenen Geschichte ist Deutschland wie kaum einer anderen Nation auf den Weg gegeben. In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft haben die Deutschen erfahren müssen, wie mühsam und wie schmerzhaft die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Prozess der Vergangenheitsbewältigung sein können.
Wir haben aber ebenso erlebt, wie die Aufarbeitung und das aufrichtige Annehmen der Vergangenheit uns im Westen und im Osten Freundschaft und Versöhnung brachten. Dies ist sicher ein Grund dafür, unsere Erkenntnisse über den Umgang mit der Vergangenheit auch weiterreichen zu wollen, wie zuletzt mit der Resolution über den Völkermord an den Armeniern.
Es mangelt nicht an Gedenkfeiern
Doch dürfen wir unsere Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur anderen wirklich mit Stolz präsentieren? Gewiss, in der jüngsten Geschichte mangelt es nicht an Gedenktagen und -feiern, die gerade durch die Beteiligung der deutschen Politik eine größere öffentliche Würdigung erfahren haben.
Die großen Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, zu denen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 eingeladen war, sind noch im Gedächtnis. An der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns auf der Westerplatte im polnischen Danzig nahm die Kanzlerin 2009 Seite an Seite mit Ministerpräsident Putin teil. Bundespräsident Gauck besuchte als erster deutscher Repräsentant das französische Dorf Oradour-sur-Glane, in dem die Waffen-SS 1944 ein Massaker an der Dorfbevölkerung verübte. Das deutsche Staatsoberhaupt gedachte in der toskanischen Gemeinde Sant’ Anna di Stazzema der 560 dort getöteten Menschen, fast ausschließlich Ältere, Frauen und Kinder. Er war im tschechischen Lidice, einem Dorf, das von den Deutschen 1942 ausgelöscht wurde. Allesamt sind dies wichtige und wohlgesetzte Marksteine der Versöhnung und der Mahnung für die Zukunft.
Und doch gibt es eine gravierende Erinnerungslücke
Und doch kommen mir Zweifel an der deutschen Erinnerungskultur.
Am 22. Juni 2016 jährt sich das „Unternehmen Barbarossa“, der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion, zum 75. Mal. Der brutale Feldzug im Osten hat 27 Millionen Menschen das Leben gekostet, zwei Drittel davon Zivilisten. Allein der Blockade Leningrads, die das systematische Aushungern der Bevölkerung zum Ziel hatte, fielen mehr als eine Million Einwohner zum Opfer. Tausende Dörfer und Städte in der Ukraine, in Weißrussland und in Russland wurden zerstört. Beinahe jede Familie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat ihre eigene Geschichte vom schrecklichen Leid, das die Deutschen über sie gebracht haben. Der 22. Juni, der Beginn des bis dato größten und grausamsten Vernichtungskriegs der Menschheitsgeschichte, gerichtet gegen die Völker der Sowjetunion, ist ihr Tag des Gedenkens. Er ist ein Tag der Weltgeschichte.
Merkel fährt zum Jahrestag nicht nach Moskau
In Deutschland hingegen kehrt eine eigenartige Stille ein. Der 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion ist kein Datum für offizielles Gedenken, weder im Bundestag noch in Form von Veranstaltungen der Bundesregierung. In Berlin feiert am 22. Juni die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihr Sommerfest – sicher keine böse Absicht, eher eine Unbedachtheit. Wie auch die Erinnerungslücke im Kalender des Deutschen Bundestags, in dem der 8. Mai nicht mehr – wie noch im Jahr zuvor – als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, sondern als Weltrotkreuztag firmiert. Jenes historische Datum, über das Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Deutschen Bundestag gesagt hat: „Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird.“ Natürlich mag das eine Nachlässigkeit sein, doch bleibt das ungute Gefühl, dass unsere Gedenkkultur ihre Lücken aufweist und ihre Prioritäten setzt.
Wir gehen nicht gut mit unserer nationalen Verantwortung um
Mehr noch: Wir gehen nicht gut mit unserer nationalen Verantwortung um, und wir vergeben eine historische Chance für unser Verhältnis zu unserem größten Nachbarn in Osteuropa. Angesichts der schweren Spannungen müsste es das Gebot der Stunde sein, die Versöhnungsleistung der früheren Sowjetrepubliken und Russlands staatspolitisch zu würdigen. Ganz besonders in Russland haben wir immer wieder erfahren dürfen, was wirkliches Verzeihen bedeutet. An den Stätten der größten Tragödien des Zweiten Weltkriegs, auf den Schlachtfeldern bei St. Petersburg, Wolgograd und Kursk sind wir Deutsche als Freunde willkommen. Das große Geschenk an das deutsche Volk – die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten – war eben nicht allein eine Geste des Präsidenten Michail Gorbatschow, sondern gründete auf dem Einverständnis der sowjetischen Völker und der Russen.
Der verantwortungsvolle Umgang mit dem Gedenken hat Deutschland zu Recht viel Anerkennung gebracht. Gerade deshalb sollten wir weiße Flecken in der eigenen Gedenkkultur offen ansprechen und auch den Opfern in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Russlands deutlich unseren Respekt zollen. Ich jedenfalls blicke mit großer Dankbarkeit und Hochachtung auf die Versöhnungsleistung dieser Völker. Mir gibt es Vertrauen und Gewissheit, dass im Kern hier der Boden für das gemeinsame Europa bereitet wird.
Matthias Platzeck war Ministerpräsident von Brandenburg (SPD) und ist Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums e. V.
Matthias Platzeck