Wie Diplomaten Gerüchte über das Asylparadies Deutschland bekämpfen: Deutsche Botschaften
Märchenhafte Geschichten kursieren in Krisenländern über das Leben von Flüchtlingen in Deutschland. Das Auswärtige Amt hält vor Ort massiv dagegen.
Es klingt wie Werbung für ein Paradies, und es entfaltet Wirkung: Deutschland ist bereit, 800.000 Afghanen aufzunehmen. Jeder Afghane bekommt in Deutschland einen Pass, eine nette Summe als Begrüßungsgeld, sofort eine Arbeitsstelle und sofort eine Wohnung. Solche Versprechungen grassierten und grassieren in sozialen Netzwerken des Bürgerkriegslandes, das in der aktuellen deutschen Asylstatistik weit oben steht. Hunderttausende weitere Afghanen, so fürchtet die Bundesregierung, arbeiten schon daran, sich auf den langen Weg über den Iran, die Türkei und die Balkanroute bis nach Deutschland zu machen.
Das Land am Hindukusch ist nicht der einzige Krisenherd der Weltpolitik, in dem Facebook-Nutzer, Twitterer und Blogger Botschaften austauschen, die Menschen dazu ermutigen, auf der Grundlage falscher Erwartungen viel Geld an Schlepper zu zahlen und ihre Heimat im Stich zu lassen. In den wichtigsten Herkunfts- und Transitländern, etwa auf dem Westbalkan, in Afghanistan und in arabischen Staaten, hat das Auswärtige Amt (AA) deshalb schon Ende August eine Aufklärungskampagne gestartet, die erste Wirkung entfaltet. Seither beobachten die Vertreter Deutschlands in den Botschaften auch gezielt soziale und klassische Medien, um schnell reagieren zu können.
Dreimal wöchentlich trifft sich im AA seither eine "Redaktionskonferenz" von Spezialisten, die Informationen auswerten und die deutschen Vertretungen mit Dossiers von Argumenten versorgen, die auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten ist. Für unterschiedliche Länder nutzen die Diplomaten verschiedene Medien: Syrer informieren sich häufig über Facebook, in Afrika nutzen viele Menschen Radio, in Afghanistan das Fernsehen.
Wie falsche Versprechungen Menschenmassen in Bewegung setzen können, erlebten Anfang September die deutschen Diplomaten im Libanon. Nachdem in sozialen Netzwerken ein aus dem Jahr 1991 stammendes Foto eines mit Flüchtlingen überladenen Schiffs geteilt und dazu die Botschaft verbreitet wurde, Deutschland werde Schiffe schicken, um Flüchtlinge abzuholen, belagerten mehrere hundert Menschen die Botschaft in Beirut. Mehrfach musste der Leiter der Rechts- und Konsularabteilung, Jörg Walendy, mit dem Megafon vor das Gebäude treten und eindringlich mahnen, das Gerücht nicht zu glauben.
"Deutschland debattiert nicht unter der Käseglocke"
Den wenigsten Teilnehmern der deutschen Diskussion um Flüchtlinge ist bewusst, dass sie weltweit Zuhörer haben. Nicht nur die Flüchtlings-Selfies der Kanzlerin, auch Überlegungen von Innenminister Thomas de Maizière zur Einschränkung des Familiennachzugs verbreiteten sich rasend schnell über Tausende von Kilometern. "Die politische Debatte in Deutschland wird nicht unter einer Käseglocke geführt", sagt Diplomat Walendy: "Viele Argumente, die eigentlich an ein deutsches Publikum gerichtet sind, werden zum Beispiel durch ,translate.google‘ sofort übersetzt und in sozialen Netzwerken in arabischen Ländern geteilt und bewertet – allerdings oft verfälscht und völlig aus dem Zusammenhang gerissen."
In Kabul haben die deutschen Diplomaten in Zusammenarbeit mit deutschen und afghanischen PR-Agenturen eine Plakatkampagne entwickelt. „Sie wollen Afghanistan verlassen, haben Sie es sich gut überlegt?“, heißt die einfache Botschaft auf den Werbeflächen, auf denen auch ein Link zur Website "Rumours About Germany" ("Gerüchte über Deutschland") steht. Dort finden die Interessenten dann Antworten auf Fragen wie: "Stimmt es, dass alle Afghanen in Deutschland Pässe bekommen?" Weil vor allem viele junge, gut ausgebildete Männer aus den urbanen Zentren überlegen, sich nach Deutschland durchzuschlagen, hängen die Plakate nun vor den Passausgabestellen in Kabul, Mazar-i-sharif und Herat.
Das Wort "Abschreckung" wollen deutsche Diplomaten im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen falsche Gerüchte nicht in den Mund nehmen. "Wir wollen mit der Kampagne nicht schockieren", sagt etwa der deutsche Botschafter in Kabul, Markus Potzel: "Wir wollen, dass die Menschen noch einmal überlegen und sich gründlich informieren." Doch zur Flucht ermutigen will das AA mit seinen Bemühungen nicht – im Gegenteil.
Seitdem die Diplomaten und ihre einheimischen Helfer in vielen Ländern mit lokalen Medien kooperieren, auf Facebook und Twitter ihre Botschaften unter die Menschen bringen und die örtlichen sozialen Netzwerke genau beobachten, hat sich viel getan. Gerüchte wie die über zum Abholen von Flüchtlingen in libanesische Häfen entsandten Schiffe, die zuvor tausendfach geteilt worden waren, sind größtenteils aus dem Netz verschwunden.
Wer sich mit falschen Hoffnungen auf den Weg gemacht hat, erlebt spätestens nach der Ankunft in Deutschland eine Enttäuschung – und die wird meist über soziale oder klassische Medien in das Heimatland berichtet. Die irakische Botschaft in Berlin gab in den vergangenen Wochen 150 Reiseausweise an irakische Asylbewerber aus, die in ihre Heimat zurückkehren wollen. Auf Empfehlung von Schleppern hatten sie ihre alten Pässe weggeworfen. Ein Rückkehrer berichtete in einem kurdisch-irakischen Fernsehsender in Erbil, er habe in Deutschland mehrere Stunden in der Kälte auf seine Registrierung und etwas zu essen warten müssen und am Ende nur eine Möhrensuppe bekommen. Um seine Landsleute zu warnen, griff der Mann zu einem eindringlichen Bild. Die Flüchtlingslager in Kurdistan, so warnte er, seien "besser als die Residenz des deutschen Bundespräsidenten".
Der Artikel erschien in der "Agenda"-Ausgabe vom 08. Dezember 2015.