DDR-Häftlinge wurden ausgebeutet: Deutlich mehr Zwangsarbeit für West-Firmen
In der DDR mussten viel mehr Häftlinge als bislang angenommen Zwangsarbeit für westliche Firmen leisten. Auch VW und Aldi profitierten davon. Und sogar mit dem Blut der Gefangenen wurde gehandelt. Welches Ausmaß hatte dieses Geschäft – und wer profitierte davon?
Dass westliche Firmen in der DDR produzieren ließen, war für beide ein vorteilhaftes Geschäft: Die DDR konnte mit den Erlösen aus den West-Exporten ihren Devisenhunger stillen, die Unternehmen auf der anderen Seite konnten preiswert Waren oder Zulieferteile beziehen. Zudem hat die DDR hat nach Erkenntnissen der Stasi-Unterlagen-Behörde Häftlinge zum Blutspenden gezwungen und die Präparate in den Westen verkauft. Auch auf diese Weise verschaffte sich das klamme SED-Regime dringend benötigte Devisen
Die räumliche Nähe wirkte sich günstig auf die Transportkosten aus, bei den Verhandlungen gab es keine Sprachbarrieren. Weil auf DDR-Seite alles über die staatsmonopolistischen Außenhandelsbetriebe lief, brauchten sich die Unternehmenschefs im Westen um die Details nicht zu kümmern. Die sogenannte Gestattungsproduktion lief in der Regel wie geschmiert, weil sie im planwirtschaftlichen Getriebe besonders sorgfältig gepflegt wurde: Für den Westen nur das Beste.
Dass dafür auch zahlreiche Häftlinge aus DDR-Gefängnissen für wenig Lohn schufteten, war ein „Detail“ in diesem Handel, das vom Osten wohlweislich unterschlagen wurde und im Westen nicht interessierte. Die neue Studie aus der Stasiunterlagenbehörde verdeutlicht die Dimensionen dieser Geschäfte. In welchem Umfang waren DDR-Häftlinge an der Produktion für Westfirmen beteiligt? Insgesamt waren in 250 ostdeutschen Betrieben neben „freien Arbeitern“ auch Häftlinge beschäftigt, darunter auch politische Gefangene.
Ikea, Woolworth, Kaufhof - die Liste der Käufer ist lang
Außer Ikea bezogen nach Auskunft der Stasiunterlagenbehörde auch bundesdeutsche Firmen aus der DDR Möbel, die teilweise politische Gefangene produziert wurden. So wurden, über einen Zwischenhändler vermittelt, Neckermann, Quelle, Otto, Kaufhof, Horten, Hertie, Karstadt, Möbel Hess und Möbel Steinhoff mit Einrichtungsgegenständen beliefert, an denen teils Häftlinge mitgearbeitet hatten, wie der Autor der Studie, der BStU-Wissenschaftler Tobias Wunschik herausfand.
Überdies wurden zahlreiche andere Erzeugnisse in den Westen exportiert, in der Ära Honecker beispielsweise aus der Haftanstalt Cottbus 200000 Fotoapparate und aus dem berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck insgesamt 100 Millionen Damenstrumpfhosen. Die Strumpfhosen wurden dann in den Geschäften von Aldi, Karstadt, Hertie, Horten, Kaufhof, Kaufhalle und Woolworth verkauft. DDR-Gefangene waren auch an der Produktion von Fernsehern, Motorrädern und Farbfilmen (für Neckermann), Küchenherden (für Quelle) sowie Kerzen (für Schlecker) beteiligt. Auch Werkzeugkästen und Schreibmaschinen wurden teils in Gefängnissen gefertigt und in den Westen geliefert. Häftlingsarbeiter produzierten zusammen mit „freien“ Arbeitern Kupferdraht, Elektromotoren, Mähdrescher, Gussteile, Schuhe, Glasseide, Spindeln, Schaltelemente, Autoscheinwerfer sowie Motorradteile für den Westexport.
Wie viel Devisen erwirtschaftete die DDR mit den Häftlingen?
Für „harte“ Devisen konnte die DDR in den achtziger Jahren „Knastwaren“ im Wert von mindestens 200 Millionen DM jährlich absetzen. Diese Summe sei eine „sehr konservative“ Schätzung, möglicherweise liege die tatsächliche Summe weit höher, sagte Wunschik dem Tagesspiegel. So habe zum Beispiel allein das Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik Exportauflagen von 1,8 Milliarden Valutamark pro Jahr gehabt. Im Bereich dieses Ministeriums seien knapp 500 Häftlinge beschäftigt gewesen. Gemessen am Gesamtpersonalbestand lasse sich daraus ein Warenwert aus der Arbeit von Gefangenen für den Westexport insgesamt, also nicht nur für die Bundesrepublik, von rund 156 Millionen DM ermitteln.
Unter welchen Bedingungen waren die Häftlinge tätig?
Es gab Produktionsstätten in den Zuchthäusern selbst, viele Häftlinge wurden aber auch direkt „in die Produktion“, also in die Betriebe gebracht. Dort arbeiteten sie in der Regel in speziell abgeriegelten Bereichen, einerseits um die Fluchtmöglichkeiten zu begrenzen, andererseits um den Kontakt zu „freien“ Beschäftigten zu vermeiden. Charakteristisch für die Arbeit von politischen Häftlingen in DDR-Gefängnissen war nach Wunschiks Erkenntnissen, dass sie zusammen mit Kriminellen arbeiten mussten. Sie hatten zumeist mehr als „freie“ Beschäftige zu leisten, verdienten aber wesentlich weniger als diese. Und: Oft kamen sie wegen der dort eingesetzten veralteten Maschinen in Lebensgefahr oder ruinierten ihre Gesundheit.
Was weiß man über die Blutspenden von Häftlingen?
Dieser Aspekt wird in der Studie nur am Rande behandelt. Über den Handel mit Blutpräparaten waren bereits in den 90er Jahren erste Berichte aufgetaucht. Aktenfunde Wunschiks legten nun nahe, dass auch Häftlinge Blut für den West-Export spendeten. Inwieweit dabei Zwang ausgeübt wurde, ist weithin unklar. In den Unterlagen selbst werde von Freiwilligkeit gesprochen. Vorstellbar ist für Wunschik aber, dass zumindest psychischer Druck auf die Gefangenen ausgeübt wurde, indem ihnen suggeriert wurde, ihnen könnten Nachteile aus einer Weigerung erwachsen.
Umgekehrt habe oft die Aussicht auf Straferlass ein entsprechendes Wohlverhalten der Häftlinge ausgelöst. Die Dimension der Geschäfte mit Blut liegt weitgehend im Dunkeln. Sie liefen nach Auskunft eines Sprechers des Blutspendedienstes des DRK offenbar über den Bereich Kommerzielle Koordinierung des DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski. Seit 1976 sei Blut in der Bundesrepublik als Arzneimittel eingestuft, es sei, unter Beachtung aller Vorschriften, damit auch eine Handelsware. Das damalige Geschäft, bei dem die DDR zwischen 1985 und 1986 rund 40000 Erythrozyten-Konzentrate über einen Schweizer Zwischenhändler an das bayrische DRK lieferte, sei beim Bundesamt für Ausfuhrkontrolle ordentlich angezeigt worden.
Welche Folgen werden die Erkenntnisse aus der Studie haben?
Experten hatten schon bei den Enthüllungen über Zwangsarbeit von DDR-Häftlingen für Ikea 2012 gemutmaßt, dass dies nur die Spitze des Eisbergs sei. Das bestätigt sich nun. Der Beauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, brachte im Zusammenhang mit den neuen Erkenntnissen einen Fonds ins Gespräch, an dem sich die jeweiligen Unternehmen beteiligen sollten und der der Wiedergutmachung für die Häftlinge dienen sollte.
Ähnlich äußerte sich der Bundesvorsitzende des Dachverbands der SED-Opfer (UOKG), Rainer Wagner. „Die Zwangsarbeit in DDR-Haftanstalten war von Anfang an wirtschaftlich motiviert. Die für die Häftlinge eingezahlten Sozialversicherungsbeiträge wurden nie an die Sozialleistungsträger abgeführt, was sich bei den Betroffenen heute in der Rente bemerkbar macht. Hier gibt es einen klaren Ansatzpunkt für eine Entschädigung.“ Darüber hinaus müssten sämtliche Berufskrankheiten und Betriebsunfälle der damaligen Zwangsarbeit überprüft werden.
Die vollständige Studie „Knastware für den Klassenfeind“ erscheint im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und wird dieser Tage ausgeliefert.