Missbrauchsskandal: Der Zeitgeist weht wo er will
Bischof Mixa macht die sexuelle Revolution für den Missbrauch von Kindern durch Priester verantwortlich. Von den wahren Ursachen lenkt er damit ab.
Besonders in konservativen katholischen Kreisen ist man in der Regel stolz darauf, einer Organisation anzugehören, die in vieler Hinsicht dem trotzt, was man gemeinhin "den Zeitgeist" nennt. Ob völlige Gleichberechtigung von Frauen, Anerkennung homosexueller Partnerschaften oder Verhütungsmittel – bei all diesen Themen gelten in der Katholischen Kirche eigene Maßstäbe, die zu denen der Mehrheitsgesellschaft im Widerspruch stehen.
Insofern ist es schon mehr als verwunderlich, dass ausgerechnet in dem Moment, in dem es um die Fehler von Priestern geht, plötzlich von einem der Exponenten des erzkonservativen Lagers in der katholischen Kirche der Zeitgeist zur Erklärung herangezogen wird. Die sexuelle Revolution der sechziger und siebziger Jahre habe dem sexuellen Missbrauch von Kindern – auch in kirchlichen Kreisen – Vorschub geleistet, sagte der Augsburger Bischof Walter Mixa, nun sinngemäß, nachdem in den vergangenen Wochen mehr als 100 Missbrauchsfälle an von Jesuiten geführten Gymnasien bekannt geworden waren.
Das verhängnisvolle Wirken des Zeit- statt des Heiligen Geistes macht Mixa selbst noch für das jahrzehntelange Vertuschen dieser und zahlreicher anderer kirchlicher Missbrauchsfälle mitverantwortlich: Dass die Kirche bisher mit Priestern, die sich an Kindern vergingen, oft zu lax umgegangen sei, habe wohl damit zu tun, dass gesamtgesellschaftlich ein übertriebener Resozialisierungsgedanke vorgeherrscht habe.
Die gewandelte gesellschaftliche Moral soll also plötzlich daran schuld sein, dass ausgerechnet Vertreter jener Kirche, die sich immer gegen diesen Wandel gestellt hat, gegen jede Moral gehandelt haben? Ein absurder Gedanke.
Tatsächlich wurde allerdings im Nachgang der sexuellen Revolution in den achtziger Jahren darüber diskutiert, den Paragraph 176 des Strafgesetzbuches, der den sexuellen Missbrauch von Kindern verbietet, abzuschaffen. Im Zuge der neuen sexuellen Freiheit schien Teilen der Gesellschaft prinzipiell alles denkbar, auch die erotische Liebe zwischen Kindern und Erwachsenen. Manche Grüne waren in dieser Hinsicht unrühmliche Vorreiter, das sollten die Vertreter der Ökopartei bedenken, wenn sie sich nun besonders laut über Mixa echauffieren. Doch als Entschuldigung für Priester, die ihnen anvertraute Kinder und Jugendliche an Körper und Seele verletzt haben - mit bleibenden Folgen bis heute -, kann das nicht dienen.
Mixas Äußerungen gehen deshalb in die Irre – und sie sind für die Katholische Kirche fatal. So verkennt der Bischof, wenn er nun die Gelegenheit nutzt, die "Sexualisierung" der Gesellschaft anzuprangern, dass es ohne die Enttabuisierung dieses Themas wohl keinesfalls weniger Missbrauchsfälle gäbe. Nur wüssten wir vermutlich noch viel weniger darüber, als wir es heute tun. Auch und gerade nicht in der Kirche.
Nur weil das gesamtgesellschaftliche Klima sich gewandelt hat, nur weil heute insgesamt sehr viel offener über Sexuelles und eben auch über sexuellen Missbrauch gesprochen werden kann, trauen sich die Betroffenen jetzt mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit. Insofern ist es auch wenig erstaunlich, dass viele der Fälle, von denen wir nun erfahren, so lange zurückliegen. Als die Straftaten passierten, vorwiegend in den siebziger und achtziger Jahren nämlich, herrschte bei Weitem noch nicht die große Sensibilität für dieses Thema vor wie heute. Dass sich das geändert hat, das – und nicht der Missbrauch selbst – ist eine mittelbare Folge der sexuellen Revolution.
Fatal für die Kirche aber sind Mixas Äußerungen vor allem, weil sie den rapiden Imageverfall, dem die ohnehin nicht sehr populäre Institution wegen der jetzt bekannt gewordenen Vorwürfe ausgesetzt ist, noch verstärken.
Wenn die katholische Kirche den entstandenen Schaden wiedergutmachen oder zumindest begrenzen will, hilft es nichts, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Stattdessen muss sich die Kirche intensiver denn je damit auseinandersetzen, welche ihrer eigenen Strukturen Missbrauch begünstigen. Was tut sie Männern an, von denen sie lebenslange sexuelle Enthaltsamkeit verlangt? Wie kann sie denen, die dieser Anforderung nicht standhalten, helfen? Wie kann ein Frühwarnsystem entwickelt werden, das hilft, Missbrauch vorzubeugen und zu verhindern?
Mit all diesen schmerzhaften Fragen wird sich die Kirche befassen müssen. Und auch um die grundsätzliche Frage, wie zeitgemäß der Zölibat noch ist, wird sie dabei kaum herumkommen. Die zölibatäre Lebensform ist sicher nicht an allem schuld, sexuellen Missbrauch gibt es auch in Familien. Bisher gibt es zudem keinerlei Belege dafür, dass sexueller Missbrauch im katholischen Umfeld häufiger vorkäme als im Rest der Gesellschaft. Trotzdem muss sich die Kirche wenigstens damit auseinandersetzen, ob es nicht auch hausgemachte Ursachen für die immer wieder vorkommenden Missbrauchsfälle gibt, und darf das nicht - wie Bischof Mixa das nun versucht hat - von vornherein ausschließen.
In der kommenden Woche treffen sich die Katholischen Bischöfe zu ihrer Frühjahrskonferenz. Sie dürfen dann zu diesem schwierigen Thema nicht schweigen.
Katharina Schuler
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