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Russland, Europa, Deutschland - eine Wiederannäherung wird schwierig.
© Uwe Zucchi/picture alliance/dpa

Deutsche Russlandpolitik: Der Westen muss selbstkritischer werden

Russland braucht „neues Denken“ in der Außenpolitik. Wir sollten das durch etwas Selbstkritik erleichtern, sagt der Militärexperte Klaus Wittmann.

Dieser Text ist Teil unserer Debatte zur deutschen Russlandpolitik. Hier finden Sie die übrigen Debattenbeiträge.

Deutschland muss dazu beitragen, dass Russland wieder ein konstruktiver Akteur in regionalen und globalen Angelegenheiten wird. Aber „deutsch-russische Nachbarschaft“ führt irre. Dazwischen leben 90 Millionen Menschen, bei denen eine Einigung beider über ihre Köpfe hinweg ungute Reminiszenzen hervorruft.
Für die künftige Gestaltung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen sind langfristige Überlegungen erforderlich. Kurzfristig aber darf keine Krise anderwärts davon ablenken, dass im Ukraine-Konflikt Russland die Regeln europäischen Zusammenlebens gröblich verletzt hat. Kein Fehler seitens EU, NATO, USA oder Ukraine rechtfertigt sein gewaltsames und völkerrechtswidriges Vorgehen.

Die Strategie der Nato ist richtig: Verteidigung und Entspannung, Festigkeit und Dialogbereitschaft

Wenngleich nachhaltige Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland erreicht werden kann, hat es die russische Führung doch fertiggebracht, dass für viele wieder Sicherheit vor Russland prioritär geworden ist. Deshalb ist es - neben Deeskalationsbemühungen auch zur Verhinderung unabsichtlicher militärischer Zusammenstöße - richtig, dass die NATO ihre „Harmel-Philosophie“ weiterverfolgt: Verteidigung und Entspannung, Festigkeit und Dialogbereitschaft. Wie weit letztere auf Präsident Putin wirkt, ist zweifelhaft. Es muss aber weiter versucht werden, ihm und seiner Umgebung klar zu machen, wie sehr seine Politik Russland in eine Sackgasse geführt und isoliert hat.

Denn wie vor 30 Jahren die marode Sowjetunion benötigt auch Putins Russland, derzeit zunehmend aggressiv gegenüber dem Westen, „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik als Teil seiner notwendigen Modernisierung. Der Westen und besonders die NATO sollten das freilich erleichtern durch selbstkritische Anerkennung ihres Teils der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses in den letzten fast zwanzig Jahren.

Der Westen und die Nato müssen selbstkritischer sein - um Russland die Modernisierung zu erleichtern

Neues Denken auf russischer Seite würde folgendes umfassen: Die NATO-Klischees aus dem Kalten Krieg und deren innenpolitische Instrumentalisierung müssten aufgegeben werden. Das Bündnis hat seit seiner Londoner Erklärung vom Juli 1990 ehemaligen Gegnern aufrichtig die Hand zur Zusammenarbeit entgegengestreckt, und in ihrer „Grundakte“ von 1997 erklärten die NATO und Russland, sich gegenseitig nicht mehr als Gegner zu betrachten. Russland muss erkennen, dass es Gefährdungen seiner Sicherheit aus Süden und möglicherweise aus Osten, aber nicht vom Westen zu gewärtigen hat. Zugleich muss der Kreml einsehen, welche Befürchtungen das Bestehen auf einer privilegierten Einflusssphäre, die proklamierte „Pflicht“ zum „Schutz von Russen, wo immer sie leben“, und die russische Geschichtspolitik in Nachbarländern hervorrufen. Souveränität, Integrität und Unabhängigkeit der postsowjetischen Staaten sind anzuerkennen, und zu ihrem Sicherheitsgefühl müsste Moskau aktiv beitragen, anstatt es zu unterminieren. Respektierung von Verpflichtungen, Regeln und Institutionen entsprechend der Charta von Paris (1990) ist die Grundlage kooperativer Sicherheitspolitik in Europa.

Die NATO hat die "politische Psychologie" nur mangelhaft verstanden

Seitens der NATO müsste vor allem Folgendes selbstkritisch erkannt werden: Nur mangelhaft hat man die russische „politische Psychologie“ verstanden und den treffend so bezeichneten „imperialen Phantomschmerz“. Nach Ende des Kalten Krieges wurde der Frage nach dem Platz Russlands in der europäischen Sicherheitsordnung zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet und wurden beispielsweise russische Vorschläge zur Anpassung des KSE-Vertrags über die konventionellen Streitkräfte ostentativ missachtet. Kontraproduktiv umgegangen wurde mit den Beitrittsambitionen Georgiens und der Ukraine, die beim NATO-Gipfel in Bukarest 2008, als die USA für sie den „Membership Action Plan“ (MAP) durchsetzen wollten, für diesen nächsten Schritt in Richtung NATO-Mitgliedschaft überhaupt nicht reif waren. Keinerlei Verständigung mit Russland wurde hier gesucht, während doch frühere Erweiterungsrunden durch die Gründung bzw. Aufwertung des NATO-Russland-Rats „abgefedert“ worden waren. Der heute so kontroverse Raketenabwehrplan, eigentlich im beiderseitigen Interesse, wurde zu spät als kooperatives Projekt angeboten. Was die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo für Moskau bedeutete, hat der Westen unterschätzt (wenngleich die heute von Moskau konstruierte Analogie zur Krim-Annexion falsch ist). Ungenügend genutzt und entwickelt wurde der NATO-Russland-Rat.

Beide Seiten, Russland und die NATO, müssen das Nullsummendenken überwinden

Und beide Seiten müssten das Nullsummendenken überwinden, nach dem man Sicherheit nur auf Kosten des anderen erzielen kann. Wo könnte neue Kooperation ansetzen? Wie auch die NATO-Russland-Grundakte von 1997 mit ihren Festlegungen auf Frieden, Freiheit und Kooperation in Europa sollte der NATO-Russland-Rat selbst in der gegenwärtigen Krise bewahrt werden (und hätte eigentlich als Krisenmanagement-Mechanismus seit Beginn des Ukraine-Konflikts quasi in Permanenz tagen müssen). Später sollte der Rat zu neuer Qualität geführt werden mit einer Ausweitung der Felder konformer Interessen und gemeinsamer Aktion. Die NATO könnte sich auch zu einem strukturierten Dialog mit der von Russland geführten Collective Security Treaty Organisation (CSTO) bereiterklären. In der Erweiterungsfrage muss es bei der Politik der “Offenen Tür” bleiben entsprechend Artikel 10 des NATO-Vertrags; aber zwischen “kein Veto für Russland” und einem Nachgeben gegenüber russischer Indignation wäre doch ein Mittelweg denkbar, der russische Interessen und Empfindlichkeiten mitberücksichtigt. Den Medwedjew-Vorschlag von 2008 für einen umfassenden europäischen Sicherheitsvertrag, wenngleich in der Substanz fragwürdig, hätte die NATO doch viel aktiver aufgreifen sollen - als Ausgangspunkt für einen intensiven strukturierten Dialog. Die Scheu davor auf westlicher Seite war und ist nicht angebracht. Ist nicht auch die Schlussakte von Helsinki 1975 mit ihren segensreichen Auswirkungen in der jüngeren europäischen Geschichte aus ursprünglich furchtsam betrachteten sowjetischen Vorschlägen hervorgegangen? Die unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen Russlands und der NATO für den euro-atlantischen Raum sollten mit großer Offenheit und langem Atem diskutiert werden. Und im Interesse der Weiterentwicklung der europäischen Sicherheitsordnung sollte die NATO sich innovativ und engagiert für einen neuen Aufbruch in der konventionellen Rüstungskontrolle und europäischen Vertrauensbildung einsetzen, wo die OSZE, zumal unter deutscher Präsidentschaft, eine wichtige Rolle zu spielen hätte..

Am wichtigsten wäre es, in Russland das Bewusstsein für die wahren eigenen Interessen zu fördern: Durchbrechen der selbstgeschaffenen Isolation und Kooperation innerhalb der zivilisierten Welt sowie Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Demokratisierung und Westorientierung der Ukraine mit Gewalt verhindern zu wollen, weil das eigene Machtsystem dadurch gefährdet werden könnte, ist ein destruktives Konzept. Das russische Eingreifen in Syrien, begleitet von Häme über die Europa überrennenden Flüchtlingsströme, ist ebenfalls nicht konstruktiv.

Russland wäre als Großmacht hochwillkommen - ein Russland, dass sich konstruktiv an Problemlösungen beteiligt

Putins Frustration darüber, dass Russland vom Westen nicht auf Augenhöhe akzeptiert werde, scheint eins seiner Motive zu sein und kam schon in seiner Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 zum Ausdruck. Er scheint zu glauben, durch Regelverletzung und Aggression Respekt und gleichen Status mit den USA erzwingen zu können. Er meint der Westen wolle Russland „kleinhalten“. Nein – ein Russland, das sich (wie im Ausnahmefall der iranischen Nuklearwaffenambitionen) konstruktiv am globalen und regionalen Problemlösen beteiligte, anstatt hauptsächlich Störpotential und Verhinderungsmacht auszuspielen, wäre auch als Großmacht hochwillkommen.

Brigadegeneral a. D. Klaus Wittmann war Direktor Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr. Er ist Senior Fellow des Aspen-Instituts Deutschland.

Klaus Wittmann

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