25 Jahre Deutsche Einheit - auch in der Literatur?: Der Wenderoman im Wandel der Zeiten
Wo bleibt das Buch zum Mauerfall? Anfangs wurde nach ihm gerufen, dann wurde der Ruf zur Plage – aber es geht weiter.
Ein warmes Dämmerlicht liegt über den gut gefüllten Stuhlreihen im Plenarsaal der Frankfurter Paulskirche. Nur Stuhl und Tisch auf der Bühne vor der silbern glänzenden Orgel werden von einem einzelnen Scheinwerfer heller angestrahlt, eine Lesung soll stattfinden. Durch die hohen Fenster fällt immer wieder Licht von draußen. Für eine Woche rund um den Jubiläumstag der Deutschen Einheit werden Schriftzüge an die Außenwand der Kirche projiziert, deutsch-deutsche Wortfusionen, „Deluxe Grilletta“ neben „Astrein Subbotnik“, und es könnte kaum besser passen.
Der Abend trägt den Titel „Wende im Roman“. Nacheinander lesen die Schriftstellerin Katja Lange-Müller und ihre Kollegen Ingo Schulze und Uwe Tellkamp Romanausschnitte und Erzählungen über die Zeit um 1989/90. Doch der Funke zum Publikum will nicht recht überspringen. Ist vielleicht das Zuhören im Dämmerlicht allzu behaglich? Oder sind die Erwartungen zu hoch und die Symbolik dieser Lesung zu groß gewesen?
Manche Pointe muss der Ost-Autor dem Westpublikum erklären
Die Frankfurter Paulskirche – einer der deutschesten aller deutschen Gedenkorte demokratischer Freiheit und nationaler Einheit – ist auch ein Ort der Literatur, ein Ort, der insbesondere für die politisch-gesellschaftliche Bedeutung der Literatur steht. Und an diesem Septemberabend lesen hier nun diese in der DDR geborenen Autoren von DDR und Wende. Ihr Publikum an diesem Abend: ganz bundesrepublikanisch-bildungsbürgerlich im besten Rentenalter. So manche Pointe mit einem Seitenhieb auf die DDR-Wirklichkeit muss Schulze erklären, als die Lacher ausbleiben.
Literatur als Vermittlerin und Erinnerungsspeicher: Was der Historiker allein nicht einzufangen vermag, können Romane abbilden. Rund um Mauerfall und Wende sind es die sogenannten Wenderomane. Aber was genau ist das eigentlich, ein Wenderoman? Und welche Bedeutung hat er?
Ingo Schulze äußert Unbehagen: „Schon das Wort Wende finde ich blöd. Das hat Egon Krenz damals initiiert, alle haben es nachgesprochen, und nun bekommt man es nicht mehr aus der Welt. Aber ich weiß ja, was damit gemeint ist.“ Schließlich definiert er den Wenderoman so: „Das ist ein Roman, der den Wechsel von Abhängigkeiten, von Freiheiten zu beschreiben versucht, der um 89/90 stattfand, wo sich alles geändert hat im Osten.“
Schulze, Katja Lange-Müller und Uwe Tellkamp haben je einen oder mehrere solcher Wenderomane geschrieben. Schulze feierte seinen Durchbruch 1998 mit „Simple Storys“, den Alltagsgeschichten der kleinen Leute aus dem Osten kurz nach der Wende. Seitdem gilt er mit zahlreichen Romanen und Essays als DDR-Chronist schlechthin. Lange-Müller widmete mit ihrem Roman „Böse Schafe“ (2007) dem geteilten Berlin der späten 80er Jahre ein bewegendes Porträt. Tellkamp lieferte 2008 mit „Der Turm“ eine Hymne auf das in den Nischen der DDR konservierte deutsch-humanistische Bildungsbürgertum. Die gleichnamige Verfilmung von 2012 läuft inzwischen in Dauerwiederholung.
Warum "Wenderoman" schon das falsche Wort ist
Schulze ist in diesen Tagen für ein Interview schwer zu erreichen, jagt er doch von einer Einheitsfeier zur nächsten. Dennoch ist er bester Laune, als er schließlich am Telefon über die Bedeutung solcher Genrebezeichnungen wie „Wenderoman“ im Literaturbetrieb spricht: Für den Schriftsteller seien sie eine „Plage“, sagt er, ständig kämpfe man gegen „die Windmühlen solcher Etikettierung“.
Und besonders kräftig schlugen diese Windmühlen ab Mitte der 90er Jahre. Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung kündigte sich in der Literatur ein Generationenwechsel an. Der wohl bekannteste Wenderoman-Autor damals war Thomas Brussig (geb. 1964). In „Helden wie wir“ schuf er 1995 einen größenwahnsinnigen jungen Mann, der die Mauer allein kraft seines übermächtigen Geschlechts zu Fall brachte. Eine Satire, die nicht nur die Wende als Plot, sondern auch eine Wende im Erzählen über die DDR einläutete.
Das Label ist eine Wunschvorstellung
Im Frühjahr 1995 waren es besonders jüngere Autoren, die sich des Themas Wende annahmen – und die dafür in den Feuilletons gefeiert wurden. Neben Brussig waren da Thomas Hettche (geb. 1964) mit seinem metaphorischen wie provokanten Kurzroman „Nox“ über die Nacht des Mauerfalls, Reinhard Jirgls (geb. 1953) „Abschied von den Feinden“ über ein rivalisierendes Brüderpaar auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze oder Jens Sparschuh (geb. 1955) mit seiner tragikomischen Burleske „Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman“.
Seitdem ist der Wenderoman überaus populär. Das Label ist eine Wunschvorstellung, Ausdruck einer kaum zu erfüllenden Erwartung an die Literatur. Mit ein paar Jahren Distanz zum historischen Ereignis fordern die Feuilletons dessen literarische Verarbeitung – ein Automatismus, wie er nach Großereignissen vom Format historischer Zäsuren immer wieder auftritt. Nur wenige Jahre später suchte man nach dem einen gewichtigen Roman, der den Schock nach 9/11 literarisch verarbeiten sollte. Der Anspruch an einen solchen Roman der Stunde ist immer ähnlich: Der ultimative Zeitroman mit universellem Deutungsanspruch soll es sein, allgemeingültige Orientierungsgröße, verbindliche Selbstbespiegelung einer ganzen Gesellschaft – nicht gerade wenig. Mitte der 90er Jahre wurden solche Erwartungen zusätzlich befeuert durch eine Hochstimmung im Literaturbetrieb.
Deutsche Bücher boomten - nun fehlte nur noch etwas Gesamtdeutsches
1995 war ein Boomjahr der deutschsprachigen Literatur, Christian Krachts „Faserland“, Bernhard Schlinks „Vorleser“ wurden wie verrückt gekauft, man jubelte über die „junge deutsche Literatur“ und eine „neue Leichtigkeit“ im Erzählen. Die Zeichen schienen günstig, einen gesamtdeutschen Roman einzufordern, der befreit von der Schwere früherer Texte älterer, auch selbst historisch belasteter Autoren die Umbruchszeit um 89/90 einfangen sollte. Der Wenderoman avancierte zum Nonplusultra der Kritikerhoffnungen. Und heute? Wie erinnern sich die Autoren an diesen Boom?
Gerade ist Brussig auf Lesereise mit seinem neuen Roman „Das gibt’s in keinem Russenfilm“, wieder so ein Wenderoman, nur ohne Wende, die ist nämlich ausgefallen, und die DDR existiert noch immer. Warum dieser Plot? Er habe sich selbst nicht mehr hören können, sagt Brussig abends bei einer Lesung. Ständig sei er zur Wende befragt worden und immer wieder habe er das Gleiche erzählt.
Und doch kann man mit ihm gut über diesen Hype vor 20 Jahren sprechen. Schnell redet er sich in Begeisterung, und man merkt: Das ist sein Lebensthema, die DDR. Ob er einmal über etwas ganz anderes schreiben wird? Seine Antwort mit einem Augenzwinkern: „Große Künstler haben nur ein Thema, nennen Sie mir doch mal einen vernünftigen Grund, warum ich nicht weiter über die DDR schreiben sollte.“
So selbstsicher war er nicht immer. Während der Arbeit am Manuskript zu „Helden wie wir“ dachte er: „Das wird ein Flop. Bücher über die DDR waren Kassengift, und ich war ein junger unbekannter Autor.“ Doch es war genau umgekehrt: Symbolträchtig war 1995 Günter Grass’ Roman „Ein weites Feld“ verrissen worden. Da tat sich, so glaubt Brussig, ein Raum für kleine unbekannte Autoren auf, denn: „Alle haben irgendwie was erwartet. Die Sehnsucht nach einem Wenderoman war damals so groß, dass alles, was nur irgendwie in die Nähe geriet, plötzlich davon gefressen wurde.“
Die Motive der Autoren: Wut und Abrechnung
Dabei hält Brussig selbst „Helden wie wir“ gar nicht für einen Wenderoman. Das sei mehr so „aus der Hüfte geschossen“, ein Stück Satire, die Figuren doch allesamt Karikaturen. Ein Wenderoman müsse ein „großes episches Stück mit panoramatischem Blick“ sein und die Erfahrungen von möglichst vielen abbilden. Und er ergänzt: „Eigentlich warte ich immer noch darauf, dass endlich jemand ausspricht, dass ,Wie es leuchtet‘ der große Wenderoman ist.“ „Wie es leuchtet“ hat er 2004 selbst geschrieben. Einen Roman als breit angelegtes Mosaik unterschiedlicher Figuren und ihrer persönlichen Wendeerlebnisse. Ob Starreporter, Sekretärin, Fotograf oder Bürgerrechtler – sie alle eint die euphorische Zuversicht, in dieser Umbruchszeit nur gewinnen zu können.
Noch heute zeigt sich Brussig enttäuscht darüber, dass der Roman so wenig beachtet wurde. Vielleicht sei es damals nicht die Zeit für einen Roman gewesen, der die Wende feiert: „Es war das erste Jahr Hartz IV. Da kamen die Schuldzuweisungen auf die Einheit, während das Buch die Einheit feiert ohne das Wissen von heute.“ Ja, so ist das auch im Literaturbetrieb mit den Moden: Alles hat seine Zeit. Zugegeben eine Binsenweisheit, doch unterstreicht sie, dass auch der Wenderoman und die Erwartungen an ihn vom jeweiligen Zeitgeist abhängen.
Die junge Generation war begehrt, weil unbelastet
Anfang der 90er dominierten autobiografische Reflexionen und Bewältigungsversuche die Wendeliteratur. Berühmte DDR-Autoren wie Volker Braun (geb. 1939) und Christa Wolf (1929–2011) suchten ihre Rolle. Wolfs autobiografische Erzählung „Was bleibt“ über die seelischen Verletzungen der Bespitzelung wurde 1990 zum Auslöser der ersten großen literaturpolitischen Debatte im gerade erst wiedervereinten Deutschland. Kollegen und Kritiker warfen ihr vor, sich nachträglich als Opfer und Widerständlerin zu inszenieren. Der sogenannte deutsch-deutsche Literaturstreit wurde zur grundsätzlichen Verhandlung über ideologische Verstrickungen und moralische Verantwortung der Schriftsteller.
Umso begehrter wurde eine jüngere, unbelastete Generation, die sich des Themas annehmen sollte. In den ironisch-zynischen Romanen der jüngeren Autoren ab Mitte der 90er durfte über Absurditäten im Staate DDR gelacht werden, wurden schon einmal Politgrößen zu Witzfiguren stilisiert. Brussig nennt heute Wut und den „Wunsch nach Abrechnung mit dem Staat DDR“ als Motivation seines Schreibens damals. Zugleich gelang es den Jüngeren, den Alltag im real existierenden Sozialismus fern der großen Politik darzustellen.
Mehr-Generationen-Bücher für den distanzierten Blick
Zwischen diesen Polen von Wut, Spott, Verklärung und Rechtfertigung pendelten sich schließlich die Romane zu Beginn des neuen Jahrhunderts ein. Familienromane dominierten die literarischen Darstellungen der DDR und der unmittelbaren Wendezeit – scheinen doch solche Mehr-Generationen-Perspektiven prädestiniert für einen differenzierten, distanziert-kritischen Blick. Das erfolgreichste Familienepos war „Der Turm“ von Uwe Tellkamp. 2008 erhielt er den Deutschen Buchpreis, und nur drei Jahre später gewann mit Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ein weiterer Familienroman aus dem Osten.
Sind also Autoren die besseren Vermittler von Zeitgeschichte? Die meisten Autoren wollen nicht auf das eine Thema DDR festgelegt werden. Seit Jahren betont Tellkamp in Interviews, kein DDR-Autor sein zu wollen, und will auch seinen „Turm“ – von der Buchpreisjury das „Panorama einer Gesellschaft, die ihrem Ende entgegentaumelt“ genannt – nicht als Wenderoman verstanden wissen. Aber auch sein nächster Roman – die Fortsetzung des „Turms“ – wird sich um die Wende drehen. In diesem Herbst ist der Autor wieder häufiger in der Öffentlichkeit zu sehen und liest aus dem Romanmanuskript namens „Lava“.
Wie Tellkamp verwehrt sich auch Schulze gegen eine thematische Vereinnahmung. Natürlich wird er auch weiter „über seine Lebenszeit schreiben“, sagt er, nur müsse man das ja nicht immer Wenderoman nennen. Er wünscht sich einen Wenderoman über den Westen. Denn wie die häufig beschworene Ostalgie beobachte er eine weit verbreitete Westalgie, ein Überhöhen der alten BRD, die 1989/90 gemeinsam mit der DDR untergegangen ist. Schade, dass Schulze das nicht beim Leseabend in Frankfurt sagt – die Pointe hätte man sicher verstanden.
"Der Prozess der Verarbeitung ist noch lange nicht vorbei"
Aber ob nun Zeitromane über BRD oder DDR, Schulze hofft schon, dass die Romane gewissen Einfluss auf das Geschichtsbild nehmen, denn: „Der Prozess der Verarbeitung ist ja noch lange nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Wir sind ja gerade erst dabei, zu begreifen, was ist da 89/90 eigentlich passiert. Die Folgen waren damals ja gar nicht abzusehen.“
Nun sind pünktlich zur deutschen Silberhochzeit wieder einige sogenannter Wenderomane erschienen. Darunter Alexander Osangs „Comeback“ über eine ostdeutsche Rockband von den 80er Jahren bis in die Gegenwart. Oder der Coming-of-Age-Roman des Kulturkorrespondenten der „Süddeutschen Zeitung“ Peter Richter „89/90“ über den letzten Sommer in der DDR schaffte es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, den im letzten Jahr Lutz Seiler mit seinem Roman „Kruso“ über die Wendezeit auf Hiddensee gewonnen hatte.
Doch in hysterische Erwartungs- und Begeisterungszustände wie in den 90ern versetzen diese Romane keinen Kritiker mehr. Romane zur Wende gehören inzwischen selbstverständlich zu den Neuerscheinungen jeder Saison, Formen und Inhalte sind dabei so vielseitig, wie es individuelle Perspektiven auf die Wende gibt. Einer differenzierten Auseinandersetzung kann das nur nützen. Einzig: Den Superlativ von dem einen großen Wenderoman mit universellem Geltungsanspruch braucht es dazu nicht.
Ingo Schulze und seine Kollegen werden weiter durch die Republik ziehen und den Unwissenden geduldig erklären, was die Ketwurst vom Hotdog und den Westover vom Pullunder unterscheidet. Das Publikum in der Frankfurter Paulskirche jedenfalls freute sich an diesem Septemberabend, dazugelernt zu haben, applaudierte respektvoll und drängelte dann zur Bühne. Ehrfürchtig reichte man den Autoren aus einer anderen Welt die mitgebrachten Wenderoman-Erstausgaben zum Signieren.
Sabrina Wagner[Frankfurt am Main]
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