Die größten Corona-Baustellen: Der Weg aus dem Lockdown ist steiniger als gedacht
Die Bundesländer überbieten sich mit Lockerungen. Firmen, Theater, Behörden und Schulen stellen sich auf eine neue Normalität ein. Doch es knirscht gewaltig.
Es geht wieder los. Uneinheitlich, Stück für Stück, aber die Normalität kehrt nach dem Lockdown nach Deutschland zurück. Was in Baden-Württemberg erlaubt ist, muss in Bayern noch lange nicht wieder gelten.
Während in Nordrhein-Westfalen Wellnessangebote und Erlebnisbäder öffnen, in Brandenburg bald Veranstaltungen mit bis zu 1000 Menschen wieder möglich sind und in Berlin die Sperrstunde fällt, sind andere Länder vorsichtiger. Doch auch Thüringen und Hessen kippen ihre Kontaktbeschränkungen – ein Land fährt hoch.
Für die Wirtschaft könnte es der Befreiungsschlag sein, für die meisten Menschen das ersehnte Ende ständiger Alarmbereitschaft und des Ausnahmezustands. Es öffnet sich ein Fenster der Möglichkeiten: Urlaub! Theater! Kinderbetreuung! Endlich wieder Arbeit!
Doch der Weg raus aus dem Lockdown ist für alle gesellschaftlichen Bereiche viel schwieriger als der Weg hinein. Und von Entwarnung kann keine Rede sein. Die sogenannte Reproduktionszahl liegt im Wochenmittel laut Robert-Koch-Institut nur haarscharf unter dem kritische Wert von 1. Steigt der Wert darüber, könnte sich das Virus wieder ausbreiten. Gelingt die verantwortungsvolle Rückkehr zur Normalität? Ein Überblick.
WIRTSCHAFT: Massentests und umgebaute Großraumbüros
So erstaunlich schnell, wie der Rückzug ins Homeoffice klappte, so kompliziert gestaltet sich jetzt die Rückkehr. Wie können wieder mehr Menschen zusammenarbeiten, ohne krank zu werden? Was, wenn sich trotz der vielen Schutzmaßnahmen jemand infiziert?
In deutschen Betrieben tüfteln Chefs und Corona-Krisenstäbe an neuen Sitzplänen und Hygienekonzepten, um das zu verhindern, teilen ihre Angestellten in kleinere und stets gleichbleibende Schichten ein. In den Berliner Büroräumen von Siemens Energy sind noch rund 90 Prozent der Angestellten im Homeoffice.
Für die Zukunft wird überlegt, welche Tische auseinandergezogen werden müssen. In bestimmten Treppenhäusern sollen die Beschäftigten nur hoch-, in anderen nur runtergehen. „Die üblichen Regeln wie Hände waschen, Abstand halten, in die Armbeuge niesen lesen sie jeden Tag auf ihrem Bildschirm, wenn sie ihren Computer hochfahren“, sagt Günter Augustat, Betriebsratsvorsitzender des Gasturbinenwerks- und Servicestandortes.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
In den Produktionshallen müssten Masken getragen werden, wenn die Beschäftigten enger beieinander arbeiteten. Öffnete bald wieder die Kantine, werde an den Tischen nur die Hälfte der Stühle stehen. Andere Unternehmen installieren Trennwände, selbst wenn es genügend Abstand gibt.
„Bei uns haben wir zwischen einem Drittel der 34 Plätze zunächst welche aus Glas installiert“, erzählt Jens Hebbe, der die Betriebszentrale der S-Bahn Berlin leitet. „Wir haben das im ersten Schritt dort gemacht, wo es baulich kurzfristig möglich war.
Jetzt haben wir eine andere Lösung aus Plexiglas, die wir zwischen allen Bedienplätzen einsetzen.“ Von hier aus steuern Fahrdienstleiter an zahlreichen Monitoren Signale und Weichen. Bei jedem Schichtwechsel muss jeder seinen Platz desinfizieren, bevor er geht.
Sämtliche Branchen haben ihr Geschäft unter neuen Bedingungen langsam wieder aufgenommen. Was nicht leicht ist. Kassiererinnen sitzen seit Wochen hinter Plexiglas, Friseure, Handwerker und Kellnerinnen bedecken sich stundenlang Mund und Nase.
Die Deutsche Post geht einen Schritt weiter. Sie will Tausenden Angestellten die Möglichkeit bieten, sich vorsorglich auf das Virus testen zu lassen. Es wird vermutet, dass es mehr infizierte Menschen im Unternehmen geben könnte als bisher vermutet. Die Tests sollten von Betriebsärzten in ausgewählten, vor allem größeren Stätten durchgeführt werden.
POLITIK UND VERWALTUNG: Geschlossene Behörden, gefährdete Polizisten
Der Bundestag schaffte am 25. März die Voraussetzung dafür, dass das Parlament auch unter Corona-Bedingungen arbeitsfähig bleibt. Im Plenarsaal blieben in den vergangenen Wochen zwischen zwei Parlamentariern meist zwei Plätze frei.
Die Saaldiener desinfizierten nach jedem Redner das Rednerpult, statt Wasserglas gibt es einen Plastikbecher. Auch die Landesparlamente versuchen sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Im brandenburgischen Landtag können die Abgeordneten seit Mitte Mai theoretisch vollzählig tagen, weil im Plenarsaal Plexiglasscheiben aufgestellt wurden. Etwa 80 000 Euro hat das gekostet.
In deutschen Städten und Gemeinden wird zugleich die Verwaltung wieder hochgefahren. Wenn auch unterschiedlich schnell. In Berliner Ämtern häuft sich die aufgelaufene Arbeit. Einige Mitarbeiter wurden an die Gesundheitsämter ausgeliehen, andere waren im Homeoffice nur eingeschränkt dienstfähig.
Für die Bürger bedeutete Corona, dass viele Dienstleistungen nur schriftlich beantragt werden konnten. In Neukölln ist das Amt für Soziales noch immer für den Publikumsverkehr geschlossen, in Mitte gibt es eine Akutsprechstunde. Bei den Bürgerämtern können inzwischen wieder Termine gebucht werden – spontanes Erscheinen ist nicht möglich.
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Die Krise hat schmerzhaft deutlich gemacht, wie wichtig Digitalisierung in den Behörden ist. Das Bundesinnenministerium hat deshalb die neue Abteilung „digitale Verwaltung“ mit hundert Mitarbeitern ins Leben gerufen. Aus dem BMI heißt es, als Nächstes wolle man ermöglichen, dass „stark nachgefragte Leistungen“ wie Bafög oder Arbeitslosengeld II digital beantragt werden können.
Bei der Polizei in Deutschland verschiebt sich die Arbeit auch wieder in Richtung Normalität. „Während des Lockdowns hatten die Polizisten verstärkt damit zu tun, die Corona-Eindämmungsverordnung durchzusetzen – das ist eine andere Arbeit, als wenn man Kriminalität bekämpft“, sagt Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei in Berlin.
Jetzt kehrten die Polizisten vermehrt zu ihren üblichen Aufgaben zurück. Auch seien seine Kollegen wegen der größer werdenden Versammlungen wieder öfter in kompletten Hundertschaften unterwegs. Zuvor hatte man die Teams verkleinert.
Anders als in anderen Berufen lässt sich der Kontakt mit Menschen für die Polizisten allerdings nicht vermeiden: Lagebesprechungen per Videokonferenz seien aus Datenschutzgründen kaum möglich, sagt Jendro. Abstandhalten bei einer Festnahme oder im Mannschaftswagen gehe nicht. Die Kollegen könnten auch nicht durchgehend einen Mundschutz tragen. Zumindest sei aber eine interne Corona-Teststelle für Polizisten eingerichtet worden.
BILDUNG: Lehrermangel und abgehängte Schüler
Während Lehrkräfte während des Lockdowns versuchten, Schülerinnen und Schüler mit Aufgaben für das Homeschooling zu versorgen, brach der Kontakt zu den Kitas häufig ab. Bildungsauftrag? Fehlanzeige – auch in der Notbetreuung wurde meist nur gespielt. Entsprechend groß ist der Druck, die Kitas wieder für den Normalbetrieb zu öffnen.
Das geschieht in diesen Tagen vielerorts, wenn auch mit eingeschränkten Öffnungszeiten. Grund ist der Personalmangel. Viele Erzieherinnen gehören der Risikogruppe an. Auch Grundschulen sollen in den kommenden Wochen wieder für alle öffnen.
Nach dem Vorreiter Sachsen geschieht dies in NRW, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. Berlin plant den Regelbetrieb für Kitas ab dem 22. Juni, für Grundschulen nach den Ferien.
Was Familien und pädagogisches Personal mittelfristig erwartet, diskutieren die Kultusminister noch. Die uneingeschränkte Rückkehr zum regulären Unterricht ist eines von drei Szenarien ab August oder September. Am wahrscheinlichsten ist momentan eine Variante ohne Sicherheitsabstand – und möglichst ohne Klassen zu mischen. Ziel sei es, etwaige Corona-Fälle durch die Quarantäne einzelner Lerngruppen einzudämmen, ist aus der Politik zu hören.
Ein erneuter Lockdown sei nicht „eingeplant“. Mancherorts wird die Öffnung der Schulen mit stichprobenartigen Sars-CoV-2-Tests verbunden. Umstritten ist eine mögliche Maskenpflicht im Unterricht.
In welchem Ausmaß Schüler beim Lernen zurückgefallen sind, wird bislang nicht gemessen. Die Kultusministerkonferenz will den Schulen freistellen, ob sie an Vergleichsarbeiten teilnehmen. Auch ein bundesweites Aufholprogramm gibt es nicht.
Etliche Länder bieten aber Sommerschulen an, wobei Berlin mit der Planung am weitesten ist. Die Hochschulen halten einen Großteil ihrer Lehrveranstaltungen weiterhin online ab. Anders als an den Schulen soll es dabei auch nach dem verspäteten Start des Wintersemesters am 2. November bleiben: Digital, wo es möglich ist, Präsenz, wo es nötig ist, lautet die Devise.
GESUNDHEIT: Verschobene OPs, verängstigte Kranke
Das Gesundheitswesen war eine der wenigen gesellschaftlichen Bereiche, die während der Coronakrise nicht herunter-, sondern in aller Regel hochgefahren wurden. Allerdings gab es Verschiebungen der Ressourcen, hin zur Akutversorgung.
Vor allem der Aufbau der Intensivkapazitäten stand seit Beginn im Fokus von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU. Relativ schnell bat Minister Spahn daher die rund 2000 Krankenhäuser, planbare Operationen nach hinten zu verschieben und so Betten und Personal frei zu halten für die eventuell zu erwartende Welle an Covid-19-Patienten mit schweren Verläufen.
Bei den planbaren Operationen kam es deswegen zu einem Stau: Diese sind zwar in aller Regel keine akuten Notfälle. Eine unbegrenzte Aufschiebung kann aber für Patienten trotzdem gefährliche, auch lebensgefährliche Konsequenzen haben.
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Zudem war ein deutlicher Rückgang bei den Patienten festzustellen, die sich wegen eines Verdachts auf Herzinfarkt oder Schlaganfall in den Kliniken meldeten, stellenweise um bis zu 30 Prozent. In einer Umfrage der Ärztegewerkschaft Marburger Bund gaben Klinikärzte an, während der Coronakrise weniger zu tun gehabt zu haben.
Und auch bei den niedergelassenen Ärzten kamen weniger Patienten an, da viele von ihnen eine Ansteckung in den Praxen fürchteten und eher bereit waren, Symptome und Schmerzen in Kauf zu nehmen – oder auch zu verschleppen.
Die gesundheitlichen Folgen dieser Zurückhaltung von Nicht-Corona-Patienten wird man wohl frühestens in den Statistiken des kommenden Jahres ablesen können. Und so fordert Minister Spahn die Menschen seit ein paar Wochen immer wieder auf, „zum Arzt zu gehen, wenn es nötig ist“.
FREIZEIT: Ratlose Theatermacher, enttäuschte Amateurfußballer
In deutschen Theatern überlegen sie fieberhaft, wie man mit Abstand auf der Bühne steht, Maskenbildner basteln Abstandskorsetts aus Schwimmnudeln, Regisseure schreiben Stücke um, in manchen Tanzschulen wird solo getanzt oder ausnahmslos mit festem Partner.
Will man für den Freizeitbereich in Deutschland wissen, was geht und was nicht, braucht man detektivisches Gespür. Jedes Bundesland macht es anders.
Allein im Sport sind 27 Millionen Mitglieder und 90.000 Vereine im Deutschen Olympischen Sportbund versammelt. Bundesweit machen zwölf Millionen Menschen in Vereinen Fitnesssport, 7,2 Millionen spielen Fußball, fünf Millionen turnen.
Aber nichts ist vergleichbar: In Sachsen und NRW dürfen Sportwettkämpfe wie Fußballspiele auch im Jugend- und Freizeitbereich wieder stattfinden. In Berlin darf nur auf Abstand und mit maximal zwölf Leuten trainiert werden, in Bayern mit 20.
Christian Broßmann, Jugendleiter von Hertha 03 Zehlendorf, erteilte einem Team Anfang der Woche ein Platzverbot für den folgenden Tag. Der Platzwart, der vom Bezirksamt kommt, hatte aufgepasst: zu wenig Abstand und Übungen, bei denen der Torwart mit einem Mitspieler zusammenprallen könnte! „Unnötig“, findet Broßmann, „aber die müssen sich eben an die Regeln halten!“ Wie trainiert man 52 Mannschaften auf zwei Plätzen? Nach einer schlaflosen Nacht hatte er einen Plan, der nicht nur den Leistungsteams, sondern allen Mannschaften eine Trainingsstunde pro Woche erlaubte.
Es ist paradox: Großveranstaltungen mit mehr als 5000 Personen, die keine Demonstrationen sind, sind bis Oktober in Berlin verboten, öffentliche Versammlungen erlaubt. Erlaubt sind auch Gottesdienste, Hochzeiten nur unter Bedingungen, die je Bundesland variieren oder vom Standesamt abhängig sind.
Und Kinos? Dürfen ab dem 30. Juni öffnen. Natürlich reglementiert. Veranstaltungen in überwiegend öffentlich geförderten Theatern, Konzert- und Opernhäusern dürfen in Berlin bis Ende Juli nicht stattfinden. Dafür fallen Sperrstunden, obwohl Klubs oder Diskotheken geschlossen bleiben müssen. Jugendleiter Broßmann meint: „Ferienflieger werden jetzt vollgemacht, aber unsere Kinder dürfen im Freien nicht Fußball spielen. Das sind also die Prioritäten.“
Autoren: Amory Burchard, Maria Fiedler, Sidney Gennies, Armin Lehmann, Marie Rövekamp, Thomas Trappe
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