Kampf um Kobane: Der Viel-Fronten-Krieg des IS
In den vergangenen Tagen waren die IS-Kämpfer in Kobane zurückgedrängt worden. Doch nun haben sie sich offenbar neu formiert. Die Türkei manövriert sich mit ihrer Zurückhaltung weiter ins politische Abseits.
Die sunnitischen Extremisten vom „Islamischen Staat“ (IS) haben einen neuen Versuch zur Einnahme der kurdischen Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei gestartet. Auch im Siedlungsgebiet der religiösen Minderheit der Jesiden im Norden Iraks griff der IS erneut an.
In den vergangenen Tagen waren die IS-Kämpfer von den kurdischen Einheiten in Kobane und den Luftangriffen der Alliierten zurückgedrängt worden. Doch nun haben sie sich offenbar neu formiert . Der IS habe zuerst mit Artillerie in die Stadt geschossen und dann einen Häuserkampf in Kobane begonnen, meldete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Bis zum Nachmittag flogen die Alliierten laut kurdischen Medienberichten mindestens zwei neue Luftangriffe auf IS-Positionen in der Stadt.
Unklar blieb, ob die Verteidiger des seit Mitte September vom IS belagerten Kobane erste Unterstützung von Kämpfern aus dem nordirakischen Kurdengebiet erhalten haben, die über türkisches Territorium in die Stadt gelangen sollen. Die türkische Regierung hatte diesen Transfer am Montag erlaubt. Verteidigungsminister Ismet Yilmaz sagte, er habe Informationen darüber, dass die ersten Peschmerga aus dem Nordirak in Kobane eingetroffen seien. Dagegen sagte der Chef der kurdischen Autonomiebehörde in Kobane, Enver Müslim, noch seien keine Peschmerga eingetroffen. Die türkische Kurdenpartei HDP kritisierte das Zögern der türkischen Regierung.
Dschihadisten eröffnen zweite Front
Um den Druck durch die Kurden und die US-geführte Allianz in Kobane zu mildern, haben die Dschihadisten in der Nähe der türkischen Grenze eine zweite Front eröffnet und im Nordirak neue Angriffe auf die Jesiden gestartet. Im Sommer hatten Kurdenverbände und westliche Luftangriffe tausende Jesiden, die vom IS als Teufelsanbeter verfolgt werden, im nordwestirakischen Sindschar-Gebirge vor den anrückenden Extremisten gerettet.
Nun gibt es seit Tagen erneut Kämpfe in der Gegend, wie die jesidische Nachrichtenplattform „Ezidi Press“ meldete. Demnach griffen die IS-Truppen das jesidische Heiligtum Scherfedin am Dienstag an, um es zu zerstören. Auch bei Scherfedin flogen die Allierten am Dienstag laut „Ezidi Press“ mindestens einen Luftangriff auf die Kämpfer des IS.
Die Brutalität der Dschihadisten wurde unterdessen durch ein neues im Internet verbreitetes Video unterstrichen, in dem zu sehen ist, wie eine Frau nahe der IS-Hochburg Raqqa in Syrien wegen Ehebruchs gesteinigt wird. Iwan Simonovic, Assistent des UN-Generalsekretärs für Menschenrechtsfragen, sagte der britischen BBC, die Vergehen der Dschihadisten in Syrien und Irak seien möglicherweise als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu betrachten. Das Vorgehen der Extremisten gegen die Jesiden stelle sogar einen versuchten Völkermord dar.
Türkei nahm bisher mehr als 200.000 Flüchtlinge auf
Bisher hat die internationale Gemeinschaft den Vormarsch des IS nicht stoppen können. Für die Dschihadisten ist eine Einnahme von Kobane wichtig, weil sie mit der Kontrolle über die Stadt ein großes zusammenhängendes Gebiet entlang der türkischen Grenze ihrem Machtbereich in Syrien und im Irak einverleiben könnten. Die seit mehr als vier Wochen andauernde Schlacht um Kobane ist zudem zu einem psychologischen Kräftemessen zwischen dem IS auf der einen sowie den Kurden und der Allianz aus den USA sowie einigen arabischen und europäischen Staaten auf der anderen Seite geworden.
Die Türkei hat seit Beginn der Kämpfe in Kobane rund 200.000 Flüchtlinge aus der Region aufgenommen, beteiligt sich aber nicht an Militäraktionen gegen den IS, was der Regierung in Ankara viel Kritik im In- und Ausland eingebracht hat. Seit einigen Tagen gibt es große Spannungen zwischen der Türkei und den USA, weil Washington mit Waffenlieferungen für die Kurden in Kobane begonnen hat. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte sich dagegen ausgesprochen, weil Kobane von der syrischen Kurdenpartei PYD beherrscht wird, einem Ableger der türkisch-kurdischen Rebellengruppe PKK.
US-Außenamtssprecherin Mary Harf widersprach Erdogan, der PYD und PKK als ein und dieselbe Organisation bezeichnet hatte. Harf sagte dagegen, nach US-Gesetzen werde die PYD nicht als Teil der PKK angesehen, die international als Terrororganisation eingestuft wird. Auf die Waffenliegerungen an die PYD trotz der türkischen Bedenken angesprochen, sagte Harf, es gehe den USA nicht darum, die Zustimmung Ankaras zu den Lieferungen einzuholen.