Andrea Nahles: Der tiefe Fall
Sie selbst sieht sich als „Schufterin mit Herz“. Sie opferte viel für die SPD. Gescheitert ist Andrea Nahles aber auch an sich selbst.
Auf die Demontage folgen die Krokodilstränen. Juso-Chef Kevin Kühnert schämt sich, ihr erbitterter Gegner Sigmar Gabriel fordert eine Selbstentgiftung der SPD – dabei war er es, der zuletzt immer wieder Nahles beschädigt und gepiesackt hatte. Gabriel, der auch Autor des Tagesspiegels ist, hat es immerhin acht Jahre an der Spitze der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ausgehalten, trotz aller Defizite und Unstetigkeit.
Es folgte das Martin-Schulz-Drama, und nachdem der spektakulär gescheitert war, schwor sich die Partei: Wir müssen anständiger miteinander umgehen. Doch die Sondersitzung der Bundestagsfraktion am vergangenen Mittwoch war der Sargnagel für die Karriere der Andrea Nahles. Sie wollte Klarheit und bekam sie, vor allem im „Spiegel“ konnte sie detailliert nachlesen, was viele von ihr halten: Nichts.
Der frühere CDU-Generalsekretär und heutige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Peter Tauber, der selbst manche Härten aushalten musste, zeigt in diesen schweren Tagen die menschliche Seite der Politik. Er sagt mit Blick auf Nahles: „Ich wünsche ihr bei aller Enttäuschung, dass Sie nicht das Vertrauen in das Gute und zu anderen Menschen verliert. Und sie weiß ja, dass es da oben einen gibt, der sie nicht fallen lässt.“
Es ist für manche Genossen bitter, dass die Union der SPD nun den Spiegel vorhält, für den Scherbenhaufen, der nun mit dem erzwungenen Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin angerichtet ist. Von einem „Scheißjob“ der nun wieder zu vergeben ist, spricht die „taz“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht im Adenauer-Haus geradezu empathisch über Nahles, während draußen die Umweltschutzaktivisten von Greenpeace Sirenenalarm erklingen lassen, um diese sich dahin schleppende große Koalition zu engagierteren Klimaschutzmaßnahmen zu alarmieren. Sie habe mit Nahles immer vertrauensvoll zusammengearbeitet. "Sie ist Sozialdemokratin mit Herzblut, aber sie ist auch ein feiner Charakter“, sagt Merkel. Auch sie muss nun um ein geordnetes Ende bangen.
Öffentlich wurde Nahles vor allem für ihre Arbeit als Bundesarbeitsministerin (2013 bis 2017) gelobt, die Einführung des Mindestlohns, die Rente mit 63, das Fitmachen des Arbeitsmarktes für die Herausforderungen der Digitalisierung, sie schaffte viel. Und galt plötzlich schon als eine mögliche Kanzlerkandidatin, das Image der etwas aufgedrehten Krawallo-Politikerin mit Hang zum derben Spruch verblasste. Sie war es dann, die den Sonderparteitag der SPD Anfang 2018 in Bonn so drehte, dass man sich noch einmal für die große Koalition aufraffte. Erst das Land, dann die Partei. Doch die Zustimmung in der SPD zur großen Koalition schwindet zusehends.
Zuletzt blieb ihr nur Vizekanzler Olaf Scholz als SPD-Stützpfeiler. Doch auch der hatte sich die letzten Tage rar gemacht. Ironischerweise könnte er nun in einer gestärkten Position sein, um sein Ziel einer Kanzlerkandidatur gegen die ebenfalls zahlreichen Kritiker bei einer Neuwahl durchzusetzen – denn noch mehr Dramen und Demontagen kann die Partei in einer existenzbedrohenden Not sicher nicht gebrauchen.
Die Kunst der Zuversicht
Rückblick, eine Autofahrt mit Nahles im April 2018, wenige Tage vor dem Bundesparteitag in Wiesbaden, wo sie sich als erste Frau in der 155-jährigen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zur Vorsitzenden wählen lassen will. Im Auto liegt neben ihr das Buch „Hector und die Kunst der Zuversicht“. Es handelt von einem Mann, der an seinem Leben zweifelt, eine Krise nach der nächsten. So beschließt er, alte Freunde um Rat zu fragen, um neuen Mut, neue Zuversicht zu schöpfen.
Es wirkt wie eine Parabel auf sie und die SPD. Sie telefoniert mit Außenminister Heiko Maas, man spricht sich ab, es geht um Syrien, später fordert sie beim Landesparteitag der niedersächsischen SPD in Bad Fallingbostel, der Krieg in Syrien sei nur durch eine diplomatische Lösung mit Russland zu beenden. „Niemand muss die SPD retten, denn sie wird gebraucht – gerade jetzt als Friedenskraft“, sagt sie, lauter Beifall in der Heidmarkhalle.
Mit 18 hatte sie einen schweren Autounfall in Schweden, daher die Narbe auf der Stirn. Die Tochter eines Maurers ist seit der Jugend politisch aktiv, studierte Germanistik und schrieb ihre Magisterarbeit über die "Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman". Gerne flechtet sie persönliche Erfahrungen ein, mal ist es ihre Cousine Roswitha, die bei einer Bank durch einen Algorithmus ersetzt worden sei. Oder ihre Cousine Claudia: Als beide hörten, die Grenzen seien offen, „haben wir uns spontan in ihren klapprigen Fiesta gesetzt und sind losgefahren. Nach Luxemburg, weiter nach Frankreich. Die Schlagbäume waren weg. Wir fühlten uns frei und glücklich.“
Oder über ihren Deutschlehrer Helmut Kollig an der Realschule Mayen, ein Sozialdemokrat; der sei verantwortlich dafür gewesen, dass sie in die SPD eintrat. Es gab damals keinen SPD-Ortsverein in ihrem Dorf Weiler in der Eifel, Nahles gründete mit Mitschülern einen, weil man ein Jugendzentrum durchsetzen wollte.
Sie machte schnell Karriere – und konnte austeilen. Als Juso-Chefin war sie 1995 am Sturz Rudolf Scharpings durch Oskar Lafontaine beteiligt - der bezeichnete sie als "Gottesgeschenk" für die Partei. Andere sahen sie eher als Spalterin, klagten über ein Einmauern in engen Zirkeln – und vor allem über peinliche Auftritte.
Von Anfang an ist sie als Parteivorsitzende aber geschwächt, denn in Wiesbaden bekommt sie trotz einer eher unbekannten Gegenkandidatin, der Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, nur 414 Stimmen, was einer Zustimmung von 66,3 Prozent entspricht. Die Frau, die sie da gerade gewählt haben, bringt privat ein großes Opfer für ihren ebenso großen politischen Ehrgeiz. Denn eigentlich wollte Nahles nur dann als Parteichefin kandidieren, wenn sie ihre Tochter mit nach Berlin nehmen kann. Dann aber, so schildern es Vertraute, zieht ihr früherer Partner kurz vor dem Parteitag sein Einverständnis zurück. Die Tochter muss in der Eifel bleiben – und Nahles zwischen Berlin und ihrem Heimatort Weiler hin- und her hetzen.
Das Wort Erneuerung klang zuletzt wie eine Hülse
Und ihr passieren Fehler: Die Panne mit der kurzzeitigen Beförderung von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen zum Staatssekretär zum Beispiel. Sie selbst sagt über sich bei jener Autofahrt im April 2018, sie sei eine Schufterin mit Herz. Die Partei ist ihr Leben, sie weiß um so manche Schublade, in die sie von Leuten gesteckt wird, die sie nicht kennen. Aber, und das ist die Bürde, die sie nicht los wird, sie ist eine Machtpolitikerin par excellence.
Sie steht eben nicht für einen neuen Stil, sondern für die alte Politik des Strippenziehens und der Hinterzimmer-Deals. Mit 48 Jahren wirkt sie ziemlich alt im Vergleich zu den grünen Überfliegern Robert Habeck und Annalena Baerbock. Das Wort Erneuerung wurde bei vielem in der SPD zuletzt zu einer hilflosen Hülse.
Sie ist nie ein Parteiliebling, zumal sie auch am Sturz Franz Münteferings als SPD-Chef im Jahr 2005 beteiligt war, da sie sich gegen seinen Generalsekretärs-Kandidaten Kajo Wasserhövel stellte und der deshalb scheiterte, auch Nahles zog daraufhin zurück. Ihr bestes Wahlergebnis waren 74,8 Prozent bei der Wahl zur Vizevorsitzenden 2007. Als Generalsekretärin war sie von 2009 bis 2013 unter Sigmar Gabriel (daher rührt auch ein Grund für die heutige Feindschaft) Blitzableiter für vieles.
Es sind vor allem die Granden gewesen, die die Demontage eröffnet und verstärkt haben, Gabriel, Schulz, aber auch der letzte noch lebende SPD-Altkanzler Gerhard Schröder, der dem „Spiegel“ über einige Nahles-Auftritte sagte: „Das sind Amateurfehler“. Auf die Frage, ob Nahles über die nötige ökonomische Kompetenz verfüge, sagte er: „Ich glaube, das würde nicht mal sie selbst von sich behaupten.“
Politik kann ein brutales Geschäft sein, es ist noch gar nicht so lange her, dass eine Zeitung vom Projekt „Andrea 2021“ schrieb. Intern wird scharf kritisiert, man predige Solidarität. gehe aber mit dem eigenen Führungspersonal unmenschlich um - zuletzt demontierten reihenweise Durchstechereien aus internen Sitzungen Nahles endgültig. Die Messer waren schon für Dienstag gewetzt, um sie bei der von ihr zur Klärung der Machtfrage durchgesetzten vorgezogenen Neuwahl der Fraktionsspitze durchfallen zu lassen.
Den Gefallen wollte sie den Gegnern nicht machen. Am Abend dieses 4. Juni, wo Nahles zuvor auch in der Fraktion ihren Rücktritt vollziehen will, steht die traditionelle Spargelfahrt des Seeheimer Kreises auf dem Wannsee auf dem Programm, der konservativen Strömung der Bundestagsfraktion. Das war zuletzt auch ein Hort des Widerstands. Es dürfte keine besonders fröhliche Veranstaltung werden, das Schiff ist in schwerer Schieflage.
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