Kampf um das Einflussgebiet: Der schleichende Machtverlust Russlands
Der Konflikt um die Ukraine zeigt: Moskau kann sich mit dem Schwinden seines Einflussgebiets nur schwer abfinden. Das erwies sich bereits bei früheren Krisen. Wie geht Russland mit dem Machtverlust um?
Offiziell geht es Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinen derzeitigen Drohgebärden gegenüber der Ukraine um den Schutz der russischstämmigen Bevölkerung in dem Land. Doch hinter dieser Strategie verbirgt sich weit mehr: Es ist die Sorge, der Macht- und Einflussbereich Moskaus könnte immer weiter zerbröckeln. In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten hatten die russischen Herrscher nicht nur dem Zerfall des sowjetischen Imperiums zusehen müssen. Auch die Moskau-hörige Gemeinschaft der unabhängigen Staaten (GUS) zerrann ihnen zwischen den Fingern. In den zahlreich aufflammenden regionalen Konflikten versuchte Russland deshalb stets die ihm verbundenen Kräfte zu stützen. Im Folgenden ein Überblick über die Phasen des Machtverlustes Russlands – und dessen Kampf dagegen.
1. PHASE: DAS ENDE DER UDSSR
Es war eine Nacht- und Nebelaktion im Wortsinn: Die Auflösung der Sowjetunion, die Russlands Präsident Boris Jelzin und dessen Amtskollegen in Kiew und in Minsk – Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch – im Dezember 1991 in den Wäldern Weißrusslands beschlossen. Klandestin und ohne die Chefs der anderen „Bruderrepubliken“ auch nur um ihre Meinung gefragt zu haben. Westliche Beobachter schwankten zwischen Erleichterung und Entsetzen. Die Falken-Fraktion war froh über das Ende des „Gleichgewichts des Schreckens“. Fortan würde es nur eine Supermacht geben – die USA. Pragmatiker verwiesen darauf, dass bisher vor allem das Abschreckungspotenzial der beiden atomaren Supermächte einen überregionalen Konflikt verhinderte.
Für Kenner der Materie barg das Ende der Sowjetunion geopolitisch ein enormes Risiko. Zwar hatten die Unionsrepubliken sich de jure schon 1990 für souverän erklärt, Machtgier hinderte deren Herrscher jedoch daran, die faktischen Konsequenzen nüchtern einzuschätzen. Denn mit Ausnahme der Baltenstaaten – Estland, Lettland und Litauen – hatten die anderen UdSSR-Spaltprodukte schon beim Zarenreich Schutz gesucht oder waren von diesem einverleibt worden – durch Kriege, die Russland mit anderen regionalen Großmächten wie Iran, der Osmanischen Türkei oder Österreich-Ungarn führte.
Erfahrungen mit Eigenstaatlichkeit waren überaus begrenzt und beschränkten sich, wenn überhaupt vorhanden, auf Mittelalter und Spätantike. An den Herausforderungen der Moderne mussten sie allein schon deshalb scheitern, weil zuerst die Monarchie, dann die Sowjetmacht aus – berechtigter – Furcht vor Aufständen die Grenzen der Verwaltungseinheiten mitten durch das Siedlungsgebiet der Völker zogen und diese in binationalen Kunstgebilden zusammensperrten. Dies vor allem im Kaukasus und in Zentralasien. Daraus entstanden Konflikte, von denen einige sich bereits entluden, als Michail Gorbatschow während der Perestroika – eher der Not gehorchend, denn dem eigenen Triebe – die Zügel lockerte.
Nach der Unabhängigkeit wurde das Konfliktpotenzial durch zahllose gegenseitige Gebietsansprüche angereichert. Die meisten wurden mit Waffengewalt ausgetragen, häufig riefen die Kampfhähne Moskau als Schlichter an.
2. PHASE: DIE UDSSR-NACHFOLGE-GEMEINSCHAFT GUS
Die Ernüchterung über die Mühen der Unabhängigkeit mündete im Dezember 1991 in die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Von Russland, der Ukraine und Weißrussland initiiert, traten acht weitere, kurz davor von der Sowjetunion unabhängig gewordenen Sowjetrepubliken bei, um einen gemeinsam Wirtschafts- und Sicherheitsraum zu bilden. 1993 erweiterte sich der Kreis der Mitglieder um Georgien. Der Rolle eines ehrlichen Maklers indes wurden die Präsidenten des postkommunistischen Russlands selten gerecht. Zwar nannte Wladimir Putin die UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS ein „Instrument zur zivilisierten Scheidung“ der Sowjetunion. Russlands Einfluss auf Moskaus einstigen Hinterhof stand dabei jedoch nie zur Disposition. Mehr oder minder gekonnt spielte der Kreml die Herrscher der Ex-Sowjetrepubliken gegeneinander aus und schlug sich auf die Seite dessen, von dem Russland sich den jeweils größten Nutzen versprach.
Ohnehin sah sich der Kreml von den USA hart bedrängt. Diese wollten nicht zulassen, dass erneut eine „kritische Masse entsteht“, die Washington ernsthaft die Stirn bietet, wie es Sergei Rogow, der Chef des Moskauer USA-Kanada-Instituts formulierte. Das heizte die Konflikte im postsowjetischen Raum weiter an, wie gegenwärtig in der Ukraine zu besichtigen ist. Dort, glaubt Rogow, könnten die Spannungen zu jenem Bürgerkrieg eskalieren, der nach dem Ende der UdSSR zur Überraschung vieler ausblieb.
Denn die GUS taugt nicht als Krisenmanager. Georgien gehört ihr seit dem Krieg mit Russland 2008 nicht mehr an, Turkmenistan als nur beigeordnetes Mitglied boykottiert die meisten Projekte, der Rest teilt sich in ein pro-russisches und ein pro-westliches Lager. So war in Moskau auf heftigen Protest gestoßen, dass sich beim EU-Gipfel in Prag am 7. Mai 2009 die sechs GUS-Mitglieder Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Ukraine und Weißrussland mit der EU die sogenannte Östliche Partnerschaft schlossen. Der Konflikt in der Ukraine könnte der siechen GUS den Todesstoß versetzen versetzen.
Mit dem Aufflammen regionaler Konflikte ist die 3. Phase erreicht
3. PHASE: DAS AUFFLAMMEN REGIONALER KONFLIKTE
Die Forschung unterscheidet zwischen akuten – aktiven und meist gewaltsam ausgetragenen – und latenten, also schwelenden Konflikten. Wenigstens fünf akute Konflikte eskalierten seit dem Ende der Sowjetunion zu lokalen Kriegen zwischen UdSSR-Nachfolgestaaten. Dabei gab es tausende Tote und Millionen Flüchtlinge. Eine einvernehmliche Beilegung von Konflikten ist die Ausnahme, die Waffenruhe ist häufig fragil.
Es begann 1988 mit der Unabhängigkeitserklärung der zu Aserbaidschan gehörenden, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region Berg-Karabach. Die Fortsetzung folgte 1993, als Armenien, das keine direkten Grenzen mit Karabach hat, einen Korridor in die Exklave schlug und bis heute nicht willens ist, das dabei eroberte Gebiet an Aserbaidschan zurückzugehen. Daran scheiterten bisher Friedensverhandlungen unter OSZE-Führung, an denen auch Russland beteiligt ist. Moskau unterstützt die Position Armeniens, seines strategischen Partners im Südkaukasus.
Anfang der 90er Jahre verabschiedeten sich auch Südossetien und Abchasien in die Unabhängigkeit. Zuvor hatte Georgien ihnen die Autonomierechte gestrichen. Moskau alimentierte die Separatisten von Anfang an, rüstete sie aus und schickte Truppen, als Tiflis 2008 versuchte, die Gebiete mit Gewalt zurückzuholen. Russland erkannte beide gleich nach dem militärischen Sieg als unabhängig an, de facto sind sie seither russische Protektorat. Der Westen unterstützt Georgien bei den Bemühungen um Wiederherstellung seiner staatlichen Einheit. Nach georgischen Angaben sind in Südossetien und Abchasien noch immer jeweils 3500 russische Soldaten stationiert.
Anfang der 90er Jahre sagte sich die mehrheitlich russischsprachige Region mit einer halben Million Einwohner von Moldau los. In der Folge kam es zu Kämpfen zwischen moldauischen Streitkräften und von russischen Soldaten unterstützten transnistrischen Milizen. Seit 1992 überwacht eine trinationale Friedenstruppe mit Soldaten aus Russland, Moldau und Transnistrien das einst blutig umkämpfte Gebiet. 2006 stimmte die Bevölkerung von Transnistrien mit einer überwältigenden Mehrheit von 97,1 Prozent für die Angliederung an Russland. Verhandlungen zwischen Moldau, Russland, Transnistrien, der Ukraine und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) über einen Kompromiss laufen seit Jahren.
Vor allem der uralte Kampf um Zugriff auf Wasser führte 2010 auch im ethnisch bunt durchmischten Fergana-Tal – eine der wenige Oasen in der Wüsten-Region Zentralasien - zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Usbeken. Sie beschränkten sich allerdings auf Südkirgistan, wo Usbeken die Mehrheit haben. Befeuert wurde der Konflikt durch den Machtkampf zwischen Clans der nördlichen und südlichen Landeshälfte, die historisch und kulturell wenig Gemeinsamkeiten haben. Der Nord-Süd-Konflikt führte schon 2005 zu einem Umsturz, den der Westen voreilig zur demokratischen Revolution hochjubelte. Moskau gewährte dem gestürzten Präsidenten Askar Akajew Asyl und unterstützt traditionell die Clans im Norden. Dort gibt es eine russische Militärbasis. Der Konflikt kann jederzeit neu aufflammen und mit Spaltung enden.
Auch im benachbarten Tadschikistan entlud sich das Machtgerangel der regional organisierten Clans 1992 in einem Bürgerkrieg, der erst 1997 unter UN-Ägide beigelegt wurde. Präsident Emomali Rachmon war zuvor schon mit russischen Waffen an die Macht gekommen. Er ist wirtschaftlich von Moskau abhängig, das dort eine ganze Division stehen hat.
Russland unterstützt Tadschikistan und Kirgistan bei den Auseinandersetzungen um Wasser mit Usbekistan, das als unsicherer Kantonist bei Moskaus Integrationsprojekten gilt.
Um Land und Jobs, künstliche Grenzen und Verwaltungseinheiten geht es auch bei dem Konflikt der Völker im russischen Nordkaukasus. Er vor allem verhinderte bisher eine Einheitsfront gegen Moskau und die Abspaltung der Region, die Moskau erst seit dem 18. Jahrhundert kontrolliert. Um sich an Russland für den Verlust von Südossetien und Abchasien schadlos zu halten, versucht auch Georgien, Einfluss auf die Völker des Nordkaukasus zu gewinnen. Tiflis und Grosny unterhielten freundschaftliche Beziehungen, als Tschetschenien sich 1991 von Russland lossagte. Die Rebellenrepublik wurde erst nach zehnjährigem Krieg befriedet. Moskau zahlt Reichsverweser Ramzan Kadyrow einen hohen Preis dafür, dass er in seinem Gebiet mit eiserner Faust für Ordnung sorgt. Doch Reste der Untergrundkämpfer destabilisieren nun die Situation in anderen Regionen des Nordkaukasus. Experten schließen einen neuen Waffengang Moskaus in der Region nicht aus.
Ähnlich gefährlich wie die akuten sind die unzähligen latenten, schwelenden Konflikte. In Russland könnte sich nicht nur im Nordkaukasus die verkorkste Nationalitätenpolitik rächen, sondern auch im Wolga-Ural-Gebiet, wo die Tataren leben, Russlands größte ethnische Minderheit, die immer selbstbewusster auftritt.
Konfliktpotential gibt es auch in Kasachstan. Ethnische Russen stellen im Norden teilweise die Bevölkerungsmehrheit und fühlen sich ähnlich diskriminiert wie die Brüder in der Ukraine. Vor allem durch das Sprachengesetz, das von Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst ausreichende Kenntnisse der Staatssprache verlangt: Kasachisch, das zu Sowjetzeiten als unfein galt. Von der Regierung angebotene, kostenlose Kasachisch-Crash-Kurse empfinden Russen nach wie vor als Zumutung.
In den anderen zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken, wohin Russen zu Sowjetzeiten massenhaft als Spezialisten und Entwicklungshelfer zwangsumgesiedelt wurden, sieht es nicht besser aus. Gleich nach dem Ende der Sowjetunion begann daher der Massen-Exodus Richtung Russland. Heimisch wurden viele auch dort nicht. Sie hatten zum Teil Sitten und Bräuche ihrer Gastländer übernommen und werden nun von den Einheimischen als Fremde wahrgenommen. (mit AFP)