EU-Gipfel in Tallinn: Der Reformprozess steckt noch in den Anfängen
Es herrscht so etwas wie Aufbruchstimmung auf dem Gipfel der EU ist Tallinn. Aber alles steckt noch in den Anfängen. Und Merkel hält sich zurück.
Ende September regnet es hier meist tagelang am Stück, berichten die Tallinner. Pünktlich zum Digital-Gipfel aber lacht die Sonne aus strahlend blauem Himmel auf die Hafenstadt im Baltikum. So ungewöhnlich das Wetter, es passt zur Atmosphäre bei dem Treffen der Staats- und Regierungschefs. Es herrscht so etwas wie Aufbruchsstimmung im Club. Innerhalb von wenigen Wochen haben mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und dem französischen Präsidenten gleich zwei Schwergewichte ehrgeizige Reden gehalten und Visionen für das Europa der 27 aufgezeigt.
Wenige Tage nach dem Aufschlag von Emmanuel Macron kommen nun erstmals alle Regierenden zusammen, um die Pläne zu besprechen. Mancher vermisst den Sinn für das Machbare. So warnt etwa der Ministerpräsident der Niederlande, Mark Rutte, den Menschen nicht zu viel zu versprechen. Europa müsse auch liefern. EU-Ratspräsident Donald Tusk vergleicht das Feuerwerk an tollen EU-Ideen mit dem „Eurovisions“-Wettbewerb. Das sei auch in Ordnung, solange am Ende alle zusammen singen.
Beim Abendessen gibt es zumindest schon einmal keine Misstöne. Allerdings wird da auch nicht Tacheles geredet. Über die weitreichenden wirtschaftspolitischen Vorschläge von Macron, etwa mehr Geld aus den nationalen Haushalten abzuzweigen und in Brüssel gemeinschaftlich in der Euro-Zone zu verwalten, wird gar nicht gesprochen. Vielmehr bekunden die Staats- und Regierungschefs eher undifferenziert ihre Bereitschaft, Ernst zu machen mit Reformen.
Auch Angela Merkel meldet sich zu Wort. Sie spricht nach Macron und Juncker. Nun ist schon zu normalen Zeiten ihr Markenzeichen nicht unbedingt das Streben nach pathetischen Tönen. Ihr liegt mehr die Nüchternheit. Umso mehr ist das jetzt der Fall – fünf Tage nach den Wahlen und ganz am Anfang einer nicht leichten Regierungsbildung mit ungewissem Ausgang. Sie lässt sich, wie immer, nicht allzu sehr in die Karten gucken. Sie begrüßt die Vorschläge „außerordentlich“, es gebe ein hohes Maß an Übereinstimmung, über Details müsse aber noch geredet werden. Sie kündigt an, eigene Vorschläge zu unterbreiten. So will sich etwa Berlin dafür einsetzen, dass der Bankenrettungsfonds ESM zu einem Europäischen Währungsfonds umgebaut wird.
Noch ganz am Anfang
Doch man ist bei den großen Weichenstellungen nach ganz am Anfang. Bisher habe man sich noch nicht einmal auf die Ziele verständigt. Allerdings kommt deutlich Schwung in die Sache. Ratspräsident Tusk will nun die Reformdiskussion strukturieren und wird in den nächsten zwei Wochen eine Agenda vorlegen, was die Regierungschefs innerhalb der nächsten beiden Jahre abarbeiten wollen. Bis Weihnachten wollen die 27 Regierungschefs noch vier Mal zusammen kommen. Die Hoffnung ist, dass so die Reformen mehr Konturen bekommen.
Also alles wie immer? Für Angela Merkel stimmt das nicht ganz. Sie hält sich auffallend zurück. Normalerweise sagt sie vor dem Gipfel immer einige Sätze zu den wartenden Journalisten. Diesmal steigt sie aus dem Auto und geht wortlos in die Halle. Sie nutzt den Gipfel zu vielen Zweier-Gesprächen mit ihren Kollegen. Sie bespricht sich vor dem Abendessen mit Macron, trifft Theresa May für eine halbe Stunde und bespricht sich mit Rutte. Diese Zurückhaltung entspricht der innenpolitischen Lage in Deutschland: Merkel führt bis auf weiteres nur die Regierungsgeschäfte. Das ist fünf Tage nach einer Wahl zwar die demokratische Normalität. In der EU gehen auch alle davon aus, dass sie Kanzlerin bleibt. Niemand geht von einer dramatischen Schwächung der deutschen Position aus. Und doch: Wesentliche inhaltliche Impulse kann die EU von ihr bis zum Abschluss der Koalitionsgespräche nicht erwarten.
Da war aber noch etwas: In zwei Arbeitssitzungen sollten konkrete Fortschritte bei der Verwirklichung des digitalen Binnenmarktes erzielt werden. Dabei deutet sich erst einmal Widerstand gegen die geplante Steuer für digital operierende Plattformen wie Google und Apple an. Während die Regierungen aus Frankreich, Italien, Deutschland und mehreren anderen Ländern die Kommission drängen, konkrete Steuerpläne vorzulegen, tritt der irische Regierungschef Leo Varadkar hart auf die Bremse. „Wenn wir Europa an die Spitze der Digitalisierung führen wollen, sollten wir nicht über höhere Steuern und mehr Regulierung nachdenken.“ Er deutete an, dass es hier eine Koalition gegen die Pläne geben könnte: „Es sind noch andere Länder nicht einverstanden, etwa die skandinavischen Länder, die wie Irland ganz besonders auf offene Märkte und die Internet-Wirtschaft angewiesen sind.“