Zum Tod von Richard von Weizsäcker: Der Präsident
Richard von Weizsäcker war das Idealbild des Bundespräsidenten. Er verkörperte ein Deutschlandbild, in dem sich die Verantwortung vor der Geschichte mit dem zurückhaltenden Stolz auf das in der Demokratie Erreichte verbindet. Ein Kommentar.
Je älter die Menschen werden, desto mehr neigen sie dazu, die Vergangenheit zu verklären. Dabei wissen wir alle von der gleichsam heilenden wie vertuschenden Kraft der Erinnerung. Tatsächlich war die Welt, waren die Lebensumstände des Einzelnen oder ganzer Völker selten so idyllisch, wie wir es uns selbst glauben machen wollen. Auch Richard von Weizsäcker war kein perfekter Mensch. Er hatte seine Schwächen, konnte neben aller Liebenswürdigkeit, die ihm eigen war, wenn er sie denn zeigen wollte, sein Gegenüber Geringschätzung spüren lassen. Aber in einem Punkt, und das ist der entscheidende, sind sich im Rückblick die Deutschen in Ost wie in West vermutlich ziemlich einig, gleich ob arm oder reich, sozial- oder christdemokratisch politisch geprägt: Richard von Weizsäcker war das Idealbild des Bundespräsidenten. Er verkörperte ein Deutschlandbild, in dem sich die Verantwortung vor der Geschichte mit dem zurückhaltenden Stolz auf das in der Demokratie Erreichte verbindet. Richard von Weizsäcker war der Präsident.
Wie sehr er es war, haben uns viele der vergangenen 20 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt 1994 gezeigt – Jahre, in denen die Bundesbürger nicht immer das Gefühl hatten, als Volk von dem Mann im Schloss Bellevue würdig repräsentiert zu werden – einer Frau wurde die Chance, dies zu tun, ja bislang von den Bundesversammlungen vorenthalten. Aus der Ausstrahlung, die Richard von Weizsäcker hatte, zu schließen, nur Berufspolitiker brächten die Voraussetzung für das höchste Staatsamt mit, wäre ein Fehler. Bei Weizsäcker spielten sicher auch die Herkunft, das bildungsbürgerlich geprägte Elternhaus und die Erwartungen der Eltern an ihre Kinder eine Rolle. Entscheidend waren aber wohl die Erfahrungen aus der Nazizeit und das Kriegserleben – und die Rückschlüsse, die er für sich selbst und für Deutschland daraus zog. Im Rückblick hat er sich als fassungslos angesichts der eigenen Blauäugigkeit gegenüber dem heraufziehenden Schrecken des Hitler-Regimes beschrieben. Da war er schonungslos gegen sich, freilich mit einer Ausnahme: Des eigenen Vaters Verstrickungen in das Unrechtssystem bestritt er bis zum Schluss, obwohl er als dessen Hilfsverteidiger bei den Nürnberger Prozessen die Wahrheit anhören musste.
Lebenslehren, die er auf das ganze Volk übertrug
Jene Rede zum 8. Mai 1945, im Bundestag gehalten 1985, am 40. Jahrestag des Kriegsendes, mit der Feststellung, der Tag der Kapitulation sei für die Deutschen ein Tag der Befreiung gewesen, ist so etwas wie seine persönliche Bilanz der Lebenslehren, die er auf das ganze Volk übertrug. Daraus erklären sich sein frühes Engagement in den Leitungsebenen der Evangelischen Kirche, seine ständigen Reisen in die DDR, sein Beharren darauf, dass die deutsche Frage offenbleibe, solange das Brandenburger Tor zu sei. Das höchste Staatsamt, in das er ohne die CDU, seine Partei, nie hineingekommen wäre, bot ihm das Podium für sein Werben um ein besseres Deutschland nach innen und nach außen. Helmut Kohl hat ihm diese Distanz zu ihm, dem einstigen Förderer, nie verziehen. Da erwartete der Kanzler mehr, als der Präsident zu geben bereit war. Kohl und Weizsäcker waren so gegensätzlich, wie man es nur sein kann, und sie ergänzten sich eben doch, höchst widerwillig, wie eben das Bodenständige und das Weltläufige nicht zwingend einander ausschließende Eigenschaften sind.
Dass Richard von Weizsäcker, der vom Wesen her eher Norddeutsche, der Protestant, der erste Präsident des vereinten Deutschland wurde, hat er selbst als Gnade empfunden. Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Einheit, gab er den Deutschen in seiner Rede in der Philharmonie diesen Satz mit auf den Weg: „Sich zu vereinen heißt teilen lernen.“ In Berlin, der Stadt, die ihm so viel zu verdanken hat, beendete er nicht nur seine Präsidentschaft, sondern auch seine Lebensbahn. Wenn die Floskel in Nachrufen auf große Zeitgenossen, wonach sich ein Mensch um Deutschland verdient gemacht hat, auf jemanden zutrifft, dann auf Richard von Weizsäcker, den Präsidenten.