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Panzer am Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland auf dem Roten Platz in Moskau.
© Yuri Kadobnov/AFP

Langer Konflikt mit Moskau steht bevor: Der neue kalte Krieg wird viel gefährlicher als der alte

Was ist uns die westliche Demokratie wert, wenn sie bedroht wird? Die Antwort kann nicht nur ein großer Militäretat sein. Ein Gastbeitrag.

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Sigmar Gabriel, früher Außenminister und SPD-Vorsitzender. Heute ist er Vorsitzender der „Atlantikbrücke“, Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank und Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Volker Perthes, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Selten hat eine „Großmacht“ in so kurzer Zeit so viel verloren, wie das bei Russland der Fall ist: Von weiten Teilen der Weltwirtschaft entkoppelt, ökonomisch und sozial im Abstieg, militärisch blamiert und politisch von der internationalen Staatengemeinschaft für seinen brutalen Krieg verachtet. Fast schon spiegelbildlich gegenüber steht der „alte Westen“, der so geeint ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Natürlich kann das russische Militär in einem immer blutigeren Krieg die ukrainische Verteidigung niederkämpfen. Die ukrainische Bevölkerung aber kann der russische Präsident nie mehr für sich gewinnen. Seine Besatzungstruppen würden auf dauerhaften bewaffneten Widerstand treffen. Wladimir Putin spricht dem Nachbarland das Existenzrecht ab – doch das ukrainische Nationalgefühl ist im Kampf gegen die russische Militärmacht so stark geworden wie noch nie.

[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]

Putins Versuch, mit den Ideen des 19. Jahrhunderts und den Mitteln des 20. Jahrhunderts die Geschicke des 21. Jahrhunderts zu bestimmen, ist bereits jetzt umfassend gescheitert. In der UN-Vollversammlung verurteilten 141 Staaten Russlands Krieg. Nur Nordkorea, Belarus, Eritrea und Syrien standen auf seiner Seite. Sicher: Moskau wird nicht dauerhaft ein „Paria“ der Weltpolitik sein, denn es ist eben weit mehr als Nordkorea. Sein Rohstoffreichtum und die Rüstungswirtschaft bleiben aus Sicht vieler Entwicklungs- und Schwellenländer attraktiv.

Für Peking sind die Beziehungen zu Moskau und Putin sogar von zentralem nationalem Interesse – nicht zuletzt deshalb, weil der Krieg die USA zumindest vorübergehend zwingt, ihr Hauptaugenmerk vom Indo-Pazifik wegzulenken und auf Europa zu konzentrieren. Das Reich der Mitte hat damit sozusagen „den Rücken frei“ und kann sich voll auf seine maritimen Interessen in der Region konzentrieren.

Peking fürchtet Belastungen für die Wirtschaft

China wird Russlands Invasion in der Ukraine vermutlich nicht militärisch unterstützen, sondern alles dafür tun, nicht von US- oder EU-Sanktionen betroffen zu sein. Peking fürchtet nichts mehr als weitere Belastungen der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung. Auf der anderen Seite ist klar: Moskau gerät in eine immer stärke Abhängigkeit von Peking – es ist unübersehbar, wer Koch und wer Kellner ist. Putins „Reich“ wird nach diesem Krieg nur noch ein Schatten seiner selbst sein.

Der russische Präsident ist zu klug, um das nicht zu sehen. Aber das wird ihn eher wütender und noch unberechenbarer machen. Deshalb steuern wir nicht auf einen schnellen oder gar dauerhaften Frieden zu. Im Gegenteil: Der Besuch von US-Präsident Joe Biden in Europa dürfte vor allem dazu gedient haben, alle Verbündeten auf einen gemeinsamen Kurs einzuschwören, falls Russland in eine neue Phase der Konfrontation eintreten sollte.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Denn die Nato müsste auf den Einsatz nicht-konventioneller Waffen oder den Angriff auf ukrainische Versorgungskonvois auf dem Gebiet Polens reagieren. So sehr die transatlantische Allianz sich zu Recht bemüht, nicht in einen direkten Krieg mit Russland verwickelt zu werden, wäre der Verzicht auf jede Antwort gegenüber solchen Eskalationsstufen eine gefährliche Einladung an Moskau, noch weiterzugehen.

Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass in den politischen und militärischen Kommandozentralen von EU und Nato „kühle Köpfe“ Entscheidungen treffen. In der Öffentlichkeit dagegen nimmt die Zahl der selbsternannten Kriegsstrategen ungefähr so schnell zu wie in der Pandemie die Zahl der Hobby-Virologen. Offenbar ist bei uns vergessen, welche katastrophalen Konsequenzen ein atomarer Schlagabtausch mit Russland für die Ukraine, Polen, das Baltikum und auch Deutschland hätte. Gewinner gäbe es keine, dafür mehr Verlierer als in jedem anderen Szenario.

Es gibt kein Zurück mehr zur alten „Normalität“

Aber auch ohne eine womöglich noch weiter steigende Dramatik stehen wir vor einer längeren Phase der Volatilität und Instabilität. Solange Putin Russland führt und vermutlich auch noch danach, steht uns ein neuer „Kalter Krieg“ bevor. Und der dürfte im Zeitalter von Cyberattacken, hybrider Kriegsführung und Fake News weitaus gefährlicher werden als der „alte“, relativ berechenbare „Kalte Krieg“. Damals wurden die heißen Kriege außerhalb Europas ausgefochten. Das ist heute anders.

Wie immer der Krieg in der Ukraine endet – es wird kein Zurück mehr zur einstigen „Normalität“ geben. Das wirft die Frage auf: Wie wollen wir mit dieser Phase der Instabilität, Unsicherheit und Dysfunktionalität der internationalen Ordnung umgehen? Gerade im konfliktscheuen Deutschland brauchen wir auch eine mentale Veränderung, damit der eingeleitete politische Wandel dauerhafte gesellschaftliche Rückendeckung erhält.

Das ist einfacher gesagt als getan. Eben noch haben wir über die „richtige“ Benennung der Geschlechter gestritten. Nun sehen wir uns über Nacht in die Welt des gnadenlosen Interessenkampfes katapultiert.

Noch ist die abstrakte Beistandsverpflichtung des Artikels 5 des Nato-Vertrags kaum ausbuchstabiert worden: „Ich bin bereit, für Deine Freiheit mein Leben einzusetzen.“ In postheroischen Zeiten wirkt dies fremd und ängstigend. Wie machen wir daraus Mut, Einsatzbereitschaft und den Optimismus, dass wir als Gemeinschaft von Demokratien am Ende erneut stärker sein werden als unsere autoritären Gegner?

Quer durch die politischen Lager heißt es derzeit, Deutschland müsse wirtschaftlich unabhängiger von autoritären Staaten werden. Wer wollte dem widersprechen? Aber wie geht das in einem Land, dessen Wohlstand zu einem guten Teil ja auf eben dieser Abhängigkeit basiert? In dem wir es gewohnt sind, im internationalen Vergleich relativ kurz zu arbeiten, relativ viel Urlaub und Freizeit in Anspruch zu nehmen und nicht zuletzt außerordentlich große Anforderungen an die soziale und ökologische Leistungsfähigkeit unseres Staates zu stellen?

Alle Parteien machen das Gegenteil von dem, was sie im Wahlkampf versprochen haben

Es geht, indem wir die viel zitierte Vokabel von der „Zeitenwende“ ernst nehmen. Die Bundesregierung scheint dazu bereit zu sein: Alle drei Parteien tun jetzt das genaue Gegenteil von dem, was sie im Wahlkampf versprochen und im Koalitionsvertrag vereinbart haben: Die SPD erhöht den Wehretat, die Grünen suchen verzweifelt nach kohlenwasserstoffbasierten Energiequellen, und die FDP macht aus der Missachtung der Schuldenbremse gerade eine Staatsräson. Und alle drei machen es richtig.

Mental aber stehen wir gerade erst am Anfang der Zumutungen und einer neuen und weitaus unbequemeren „Normalität“. Deutschland muss jetzt zu einer wehrhaften Demokratie reifen und damit auch Europa ein Beispiel geben, denn wir stehen gerade jetzt unter Beobachtung.

Dass wir Flüchtlinge aufnehmen, verteilen und in den Arbeitsmarkt integrieren können – das weiß der Rest der Europäischen Union! Jetzt müssen wir eine andere Seite von uns zeigen: Was ist uns die westliche Demokratie wert, wenn sie bedroht wird? Die Antwort auf diese Frage ist für Freiheit und Sicherheit in Europa wichtiger als ein noch so großer Militärhaushalt.

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