Strauß-Biographie: Der Mann ohne seine Mythen
Horst Möller porträtiert den Weltpolitiker Franz Josef Strauß – nicht die gleichnamige barocke Figur. Eine Rezension
Als Gegenstand der historischen Forschung ist eine Legende ein schwieriger Fall. Doppelt kompliziert wird die Sache, wenn die Legende quasi noch lebt. Franz Josef Strauß war 73 Jahre alt, als seine irdische Laufbahn abrupt endete. Aber in seiner bayerisch-katholischen Heimat hat die Vorstellung wenig Befremdliches, dass er seither von einer Wolke aus teils grantelnd, teils beifällig, jedenfalls aber mit allerlei Sinnsprüchen in klassischem Latein garniert die Entwicklung hienieden begleitet.
Diese Vorstellung wird von seiner CSU umso eifriger gepflegt, je mehr es dort an Helden von vergleichbarem Format gebricht; man könnte geradezu von einem umgekehrt linearen Zusammenhang sprechen. Am 6. September wäre Strauß 100 Jahre alt geworden. Der aktuelle CSU- Vorsitzende wird dann wohl immer noch Horst Seehofer sein. Strauß hieß in der Kurzform FJS, entsprach also einer Institution wie EU oder DRK. Seehofer heißt „der Horst“. Da steht uns einiges an Weihrauchschwenkerei bevor.
Das Heiligenbild im CSU-Andenkenshop
Ein 100. Geburtstag bietet aber natürlich auch über Bayern hinaus Anlass zur Erinnerung. Auf den ersten Blick kurios, existiert bisher keine umfassende Biografie dieses prägenden Politikers der Republik. Es gibt seine eigenen, sehr unvollständig gebliebenen „Erinnerungen“ (Pantheon Verlag, München. 720 S., 18,99 €), es gibt verstreute Schriften von Weggefährten, die über interessegeleitete Hofschreiberei meist nicht hinauskommen – und es gibt so etwas wie ein sehr nachhaltig nachwirkendes öffentliches Bild der Figur Strauß.
Dieses Bild ist stark von denen geprägt, die den Mann nicht leiden konnten. Strauß ist ja auch von seinen Gegnern zur Legende verklärt worden, nur eben zur negativen. Da er aber ein Mensch war, kann die so wenig stimmen wie das Heiligenbild im CSU-Andenkenshop. Zeit also, sollte man denken, für eine Lebensbeschreibung jenseits der Legenden.
Als Erster hat sich Horst Möller daran versucht. „Franz Josef Strauß“ lautet, schlicht und monumental zugleich, das Buch des Historikers. Möller war lange Direktor des Instituts für Zeitgeschichte mit Sitz in München und also in doppelter Hinsicht dicht dran. Seine Quellenlage ist glänzend, sie reicht vom Strauß-Nachlass bis zum Archiv Helmut Kohls. Daraus hat Möller fast 730 Seiten destilliert, auf denen er Strauß’ 73 Lebensjahre aufblättert, zehn Seiten pro Jahr. Man ahnt rasch: viel zu wenig.
Das liegt nicht allein daran, dass dieses Leben schon im nüchternen Abriss kaum zwischen zwei Buchdeckel passt. Atomminister, Verteidigungsminister, Finanzminister, Kanzlerkandidat, Ministerpräsident, CSU-Chef – immer mittendrin. „Spiegel“-Affäre, Starfighter, Kreuther Trennungsbeschluss, Sonthofen-Strategie, Wackersdorf, Politischer Aschermittwoch, Rhein-Main-Donau-Kanal, Milliardenkredit für die DDR – immer im Pulverdampf. Wer von Strauß erzählen will, muss die komplette Geschichte der Bundesrepublik aufblättern bis kurz vor den Fall der Mauer, den er nicht mehr erlebte.
„Wer ist Schulze?“ lallte er
Nun mag kein Mensch ein mehrbändiges Kompendium lesen. Also braucht eine Strauß-Biografie eine Idee. Möller hat eine: Er will die Mythen beiseiteschieben und Strauß’ „politisches Denken und Handeln“ mit dem kühlen Blick des quellenkritischen Historikers analysieren. Das ist ein ehrenwerter Ansatz. Er geht nur nicht auf: nicht beim Autor – und überhaupt nicht bei Strauß.
Dem Wissenschaftler Möller kommt auf vertrackte Weise immer wieder der Zeitzeuge Möller ins Gehege. Dieser Möller, Jahrgang ’43, hat miterlebt, wie „Spiegel“ und „Stern“ ihre Sturmgeschütze auf den Bayern richteten, wo immer sich Gelegenheit bot. Jetzt zeigt er auf, wie beide diese Gelegenheit oft selber erschufen durch selektive Berichterstattung. Das ist eine notwendige Korrektur des „Spiegel“-Bilds vom Monster Strauß. Aber sie schlägt um in Überkorrektur. Die Operation unter dem heimlichen Titel „Gerechtigkeit für FJS“ führt dazu, dass Möller den eigenen Anteil seines schwierigen Helden an dem (eben nicht nur) Zerrbild nur sehr widerwillig einräumt. Gewiss hat Strauß nie eine „Sonthofen-Strategie“ in dem Sinne geplant hat, dass er dem Niedergang der Republik nachhelfen wollte, um die Union an die Macht zu bringen. Aber dass alles schlechter werden müsse, bevor man eine Chance habe, hat er gesagt. Und er musste wissen, dass ihm das um die Ohren fliegen würde.
Das Problem liegt vielleicht genau an dem Punkt, der das Buch eigentlich auszeichnet: die erwähnte exzellente Quellenlage. Der Historiker nimmt das Papier ernst – zu ernst. Die Unterlagen dokumentieren den Strategen, den Denker und Nachdenker, den Weitsichtigen und geistig weit Ausgreifenden.
Der andere taucht da kaum auf – der Impulsive, der Polterer, der Brocken von einem Kerl, der 1987 am Wahlabend besoffen ins Fernsehstudio wankt und „Wer ist Schulze?“ lallt, als ob er den ARD- Chefmoderator Martin Schulze nicht kannte.
Aber die Radaubruder-Auftritte waren kein Störfall. Strauß war auch nicht einfach bloß „ein Mensch in seinem Widerspruch“, wie Möller schreibt, das für ihn so rätselhafte Phänomen vorsichtshalber in ein Zitat des Dichters Conrad Ferdinand Meyer kleidend. Es war, um mal seinen größten Widersacher Helmut Kohl zu zitieren, die zweite Seite dieser Medaille. Ein weitblickender Weltpolitiker, der mit Mao, Gorbatschow und Honecker ins Geschäft kam, als seine CSU daheim noch Kreuze schlug beim Anblick eines leibhaftigen Kommunisten. Ein furioser Formulierer. Ein kühler Taktiker. Und im nächsten Moment lässt er seinem Dämon wild die Zügel schleifen!
Das gehört aber rein in eine Biografie: das Irrationale gleichberechtigt neben das Hellsichtige, der Mensch neben den Politiker. Das Zweite hat Möller handwerklich sauber herausgearbeitet. Aber dem, was nicht in Akten steht, verweigert er sich. Als er von der späten Beziehung des 71-jährigen Witwers mit der 32 Jahre jüngeren Renate Piller berichtet, zitiert er zwar Klatschpresse-Berichte, wie Strauß mit Einkaufstüten bepackt die fünf Treppen zur Wohnung der Angebeteten „hochschnauft“, zieht sich aber gleich wieder ins Studierstübchen zurück: Der Historiker könne das Schnaufen nicht belegen und halte seine Fantasie zurück.
Dabei braucht eine umfassende Darstellung dieser barocken Figur genau das: Fantasie. Man findet keinen „wahren“ Strauß, wenn man den riesigen Berg von Klatsch und Mythen beiseiteschiebt. Beide gehören unauflöslich zu ihm und seinem Leben. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund, weshalb es bisher keine umfassende Biografie gibt: Als Legende ist FJS noch viel zu lebendig – für eine historisch abgewogene Betrachtung ist es also ungefähr 100 Jahre zu früh.
– Horst Möller: Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell. Piper Verlag, München 2015. 832 Seiten, 39,99 Euro.