Haushaltsstreit in den USA: Der Machtkampf um Obamas Gesundheitsreform
Barack Obamas Gesundheitsreform ist das wichtigste Vorhaben des Präsidenten. Viele Amerikaner können sich noch nicht vorstellen, was ihnen das neue System bringt. Vorteile an Sicherheit oder höhere Kosten? Dabei beginnt jetzt die zentrale Phase.
Vor diesem Problem glaubte sich die New Yorkerin Joclyn Krevat gefeit. Kein Geld haben für eine medizinische Behandlung, so weit sollte es in ihrem Leben nicht kommen. Sie war über ihren Mann versichert und der über seinen Arbeitgeber, wie gut die Hälfte aller Amerikaner. Doch dann benötigte Joclyn Krevat eine Herztransplantation. Und auf einmal gab es doch ein Problem.
Die Operation war es nicht, die überstand die Beschäftigungstherapeutin gut. Sie war gerade dabei, sich von dem komplizierten Eingriff zu erholen, da erhielt sie eine Rechnung über mehr als 50 000 Dollar, die ihre Versicherung nicht zahlen wollte. Ohne es zu wissen, war sie im Krankenhaus von Ärzten behandelt worden, die nicht zum Netzwerk ihrer Krankenversicherung gehörten. Obwohl die Klinik, in die die damals 32-Jährige eingewiesen worden war, ein sogenanntes „Network“-Krankenhaus ist, arbeiten darin auch selbstständige „Out-of-Network“- Fachärzte, die „nur dafür, dass sie einen Fuß in die Tür setzen, 1500 Dollar verlangen“. Joclyn Krevat war perplex.
Hatte Barack Obama dem nicht begegnen wollen? War das Gefühl, sich in Amerika die eigene Gesundheit nicht leisten zu können, nicht der Grund für die große Gesundheitsreform gewesen, die bislang das einzige halbwegs realisierte Großprojekt des Präsidenten ist, Obamacare genannt, und von den Republikanern jetzt abermals mit aller Macht blockiert wird? Am Montag verhinderten sie mit ihrer Mehrheit im Repräsentantenhaus einen Übergangshaushalt, mit dem Obama seine Regierungsbeamten bezahlen könnte. Sie wollen ihn erpressen: ihre Zustimmung im Tausch für die Aussetzung wichtiger Teile der Gesundheitsreform um ein Jahr. Obama weigert sich. Am 1. Januar 2014 soll die Pflichtversicherung eingeführt werden. Sie auferlegt jedem Amerikaner, sich eine Versicherungsgesellschaft zu suchen. 48 Millionen US-Bürger haben bislang keinen solchen Schutz. Was ist bloß so umstritten daran?
Gesund, aber finanziell ausgeblutet
Bereits seit drei Jahren gilt Phase eins des Patient Protection and Affordable Care Act. Das Gesetz ist der 906-seitige Versuch, medizinische Versorgung für Bürger aller Einkommensklassen erschwinglich und zugänglich zu machen und finanzielle Überraschungen zu vermeiden wie jene, die Joclyn Krevat plötzlich erlebte, als sie wieder gesund war, aber finanziell auszubluten drohte.
Joclyn Krevats Fall ist dokumentiert, eine lokale Zeitung berichtete darüber und er fand sogar einen Platz in einer Broschüre der Community Health Advocates. An die wendete sich Krevat in ihrer Verzweiflung. Die Beratungsstelle sitzt im vierten Stock des imposanten United Charities Building mitten im geschäftigen Zentrum Manhattans. Würde es irgendwo in Deutschland eine Organisation geben, die sich „Kommunale Gesundheitsförderung“ nennt, sie würde sich wahrscheinlich um Cholesterinspiegel und Blutdruck der Deutschen sorgen. Nicht so in den USA, wo ein öffentlicher Verein, abgekürzt CHA (sprich: tscha), als Fremdenführer im Labyrinth des amerikanischen Gesundheitssystems fungiert.
Benötigt wird er dringender denn je. In der CHA-Zentrale helfen Telefonberater in Großraumbüros jährlich 65 000 New Yorkern dabei, einen Zugang zur Ware Gesundheit zu bekommen. Hier ruft auch Joclyn Krevat an. Die Anwälte legen erfolgreich Widerspruch gegen die überraschenden Kosten, die „surprise costs“, nach ihrer Behandlung ein. Viele andere haben nicht so viel Glück.
Bei CHA, dieser Verbraucherzentrale für Krankgewordene, ist die Misere mit Händen zu greifen, in der das amerikanische Gesundheitswesen steckt. „Unser Ziel sollte es eigentlich sein, gar nicht mehr gebraucht zu werden. Dann hätten wir unsere Mission erfüllt“, sagt Nora Chaves, die Leiterin von CHA. „Aber noch ist es so, dass in New York bankrott geht, wer ernsthaft erkrankt.“ Wie selbstverständlich fügt die Halb-Kolumbianerin hinzu, „unabhängig davon, ob er krankenversichert ist oder nicht“.
„Das Beste an Obamacare ist für uns, dass wir endlich Antworten haben“
Nora Chaves fährt ihren Bürostuhl zurück. „Das Beste an Obamacare ist für uns, dass wir endlich Antworten haben“, sagt sie triumphierend. Was soll ich jetzt tun? – Auf diese Frage verzweifelter Patienten, die kein Geld mehr hatten und aus der Versicherung geworfen wurden, hätten sie früher nur antworten können: „Tut uns leid, da können wir Ihnen nicht weiterhelfen. Sie können höchstens versuchen, Geld von einer Stiftung zu bekommen.“ Jetzt aber gebe es „so viele neue Wege, den Menschen auf ihre Fragen zu antworten“.
Chaves erzählt von einem Fall, dem der neue Patientenschutz schon geholfen hat. Megan Schley war gerade mit dem Studium fertig und dabei, sich selbstständig zu machen, als die 22-Jährige 2010 an Morbus Crohn, einem chronisch-entzündlichen Darmleiden, erkrankte. 6000 Dollar kosteten allein die Untersuchungen. Wie viele junge Berufseinsteiger in den Staaten war sie nicht krankenversichert und musste für alle Behandlungskosten selbst aufkommen. Ihre Mutter kam mit den Zahlungen kaum nach.
„Das Ganze wurde so teuer wie eine zweite Hypothek. Aber was soll man machen, wenn es um die Gesundheit der eigenen Tochter geht?“, sagt Megans Mutter Pat Schley. Die Berater erklärten ihr, dass laut der neuen Gesetzesregelung Kinder bis zum Alter von 26 Jahren weiterhin bei ihren Eltern versichert bleiben könnten. Ein Glück – in diesem Fall.
Für die Schleys scheint die Reform zu greifen, doch das Land ist tief gespalten in seiner Sicht auf Obamacare. Laut einer Umfrage der Kaiser Family Foundation, eines gemeinnützigen Instituts, das sich mit US-Gesundheitsfragen beschäftigt und auch von CHA-Leiterin Nora Chaves als wichtige und vertrauenswürdige Datenquelle herangezogen wird, sehen mehr Amerikaner die Reform negativ (43 Prozent) als positiv (39 Prozent). Gleichzeitig ist der Anteil derer, die dazu keine Meinung haben, seit 2010 von 14 Prozent auf heute 17 Prozent angestiegen. Viele Mittelschicht-Amerikaner haben keinen Begriff davon, wie sich die Reform auf ihre persönliche Situation auswirken wird, sobald sie in die große zweite Phase eintritt. Sie sind skeptisch bis ängstlich. Haben sie denn mit dem bisher bestehenden profitorientierten Versicherungswesen die schlechtesten Erfahrungen gemacht?
Nicht, sofern sie nicht an einer chronischen Krankheit litten wie etwa HIV-Infizierte. Das neue System soll deren Benachteiligung beenden. Seit Dienstag können sie sich genauso wie alle anderen Amerikaner an einer Börse, Exchange, registrieren. Auf der staatlich geprüften Online-Plattform können ab Januar private Versicherungspolicen verglichen und gekauft werden. „Alle Versicherungspolicen im Exchange müssen Mindeststandards erfüllen“, sagte Nora Chaves. „Niemand darf mehr aufgrund von Vorerkrankungen abgelehnt werden, wie das bisher der Fall war.“
In einem Land, das Individualismus hochhält, kommt Solidarität immer gut an
Das Portal ist für all diejenigen gemacht, die nicht das Glück haben, über ihren Arbeitsplatz versichert zu sein – Verkäuferinnen, Freiberufler, Bauarbeiter, Kellnerinnen, Bauern. Und für diejenigen, die keinen Anspruch auf die staatliche Fürsorge Medicaid oder die Rentnerversicherung Medicare haben. Eben genau für jene, die bisher die landesweit 20 Prozent Nicht-Versicherten ausmachten. Die zu viel verdienten, um staatliche Fürsorge zu beantragen, aber zu wenig, um sich eine private Versicherung leisten zu können. Durch die neu eingeführte Versicherungspflicht stellt die Regierung den Versicherungen im Exchange etwa 32 Millionen Neukunden in Aussicht. Der Wettbewerb um deren Gunst soll endlich die Prämien für Privatversicherungen nach unten drücken.
Die Einrichtung dieser Gesundheitsbörse ist zentraler Bestandteil der Reform, denn statt staatliche Krankenkassen einzuführen, will Obama den freien Handel mit Versicherungspolicen regulieren und Säumige disziplinieren. Wer sich nicht versichert, soll Strafen zahlen. In einem Land, das Individualismus hochhält, sind nicht alle von dieser Form der Solidarität überzeugt. Das Mandat zur Versicherungspflicht gilt als die unbeliebteste der neuen Regelungen. Der Amerikaner lässt sich vom Staat eben nicht gern etwas vorschreiben.
Zu den Skeptikern der Reform gehört Graham Franks aus Atlanta, Georgia, ein schlanker, kahlköpfiger Ex-Marine Ende 50. Seinen wirklichen Namen will er lieber nicht verraten, seine Kritik an der Gesundheitsreform aber nicht zurückhalten.
„Ich habe Angst, dass es sich für meinen Arbeitgeber eher rechnet, die Strafe zu zahlen als uns zu versichern“
Das ist nämlich so: Der groß gewachsene Selfmademan ist heute Manager eines landesweiten Spirituosenvertriebs und zahlt trotz seines guten Einkommens lediglich 130 Dollar Krankenversicherung pro Monat für sich und seine Frau. Auch er ist über seinen Arbeitgeber versichert. Sein Großkonzern betreibt wie viele in den USA ein firmeneigenes Versicherungsunternehmen. „Wir haben zwar eine Versicherungsfirma, aber die kümmert sich nur um die Verwaltung“, sagt Franks, „alle Arztrechnungen der Arbeitnehmer werden direkt von unserem Konzern bezahlt, nicht von einer Versicherung.“
Unternehmen wie dieses haben ab 2014 die Wahl: Entweder versichern sie ihre Angestellten regulär, oder sie zahlen eine Strafsteuer. „Ich habe Angst, dass es sich für meinen Arbeitgeber eher rechnet, die Strafe zu zahlen als uns zu versichern“, sagt Graham Franks. „Dann müsste ich mich privat versichern.“ Aber eben das ist für den Manager wie für die meisten Amerikaner ein rotes Tuch.
„Vor Jahren habe ich mit dem Gedanken gespielt, mich selbstständig zu machen“, denkt er zurück. „Aber die Kosten für eine Privatversicherung sind einfach zu hoch. 1000 Dollar pro Monat. Und das wäre nicht einmal ein umfassender Versicherungsschutz.“
Da bald für alle Bürger Versicherungspflicht besteht, geht es Graham Franks wie vielen seiner Landsleute: „Wir können einfach noch nicht absehen, ob wir durch die Neuerungen besser oder schlechter dastehen.“
Dabei war er 2008, als die Ära Obama begann, noch hoffnungsvoll. „Ich habe damals für Obama gestimmt, denn ich wollte die Gesundheitsreform. Doch was dann geschah, war enttäuschend“, meint Franks. Es sei nichts getan worden, um die immensen Behandlungskosten unter Kontrolle zu bringen. Einer der Gründe für diese Kostenexplosion seien die zunehmenden Klagen gegen Behandlungsfehler, gegen die sich Ärzte teuer versichern müssen. „Ich habe einige Ärzte im Bekanntenkreis, die ihren Beruf an den Nagel gehängt haben, weil sie sich ihre Haftpflichtversicherungen nicht mehr leisten konnten.“
Je mehr Menschen sich versichern, desto billiger werden die Beiträge - eine Wette auf die Zeit
Da Obamacare nach Franks’ Empfinden nicht an die Wurzeln des Problems geht, stimmte er bei der letzten US-Wahl 2012 doch wieder für seine Stammpartei, die Republikaner. Deren Präsidentschaftskandidat Mitt Romney versprach damals, Obamacare rückgängig zu machen. Dabei hatte Romney als Gouverneur von Massachusetts 2006 selbst eine fast identische Gesundheitsreform eingeführt – die nach ihm benannte Romneycare. Die Quote der Nichtversicherten in Massachusetts ist seitdem mit vier Prozent die niedrigste im ganzen Land.
Erst neulich, so berichtet Graham Franks, habe er eine hitzige Diskussion mit seiner Schwägerin Janet gehabt, seit jeher überzeugte Demokratin. Die Buchhalterin einer angesehenen Privatschule in Richmond, Virginia, hat es sogar noch besser als er, denn ihr Arbeitgeber übernimmt 100 Prozent ihrer Versicherungsbeiträge, das heißt sie selbst zahlt keinen Cent Krankenversicherung, ist aber im Krankheitsfall abgesichert. Für Leute wie Janet, so ist man schnell geneigt zu denken, wurde die Reform nicht gemacht. Trotzdem bekamen sie sich in die Haare. Denn sie ist eine eifrige Verfechterin. Und sie sagte, dass diese Reform den Amerikanern mehr Freiheiten gewähre.
Vor vier Jahren nämlich erkrankte sie selbst an Darmkrebs. „Wenn ich meinen Job jetzt kündigen würde, wäre es aufgrund dieser Vorerkrankung extrem schwierig für mich, eine private Krankenversicherung abzuschließen. Klar würde ich eine finden, die mich nimmt, aber sie wäre für mich unbezahlbar.“
Persönlich hat sie bisher nicht von den neuen Regelungen profitiert, aber sie besteht auf der kollektiven Perspektive und hofft, ganz im Sinne Obamas: „Je mehr Menschen sich versichern, desto billiger werden die Beiträge für alle.“ Ob diese Rechnung aufgeht? Es ist eine Wette auf die Zeit.
Anja Löbert