Presseschau zu Koalitionsverhandlungen: "Der Lieferservice Merkel kommt kaum noch hinterher"
Endlose Debatten, Neuwahlen voraus, alles nur Theaterdonner oder Gründlichkeit vor Schnelligkeit? CDU, CSU und SPD verhandeln über eine große Koalition. Ein Blick in die Kommentarspalten deutscher Tageszeitungen von heute.
"Wenn Schwarz und Rot sich zusammentun, wird's für die Bürger teuer", kommentiert der "Münchner Merkur". "Beim letzten Mal traf's mit dem Mehrwertsteuer-Überfall die Steuerzahler. Diesmal sind die Beitragszahler dran. Mindestrente, Erwerbsminderungsrente, Mütterrente, Familienpflegezeiten - der Lieferservice Merkel kommt kaum noch hinterher, der SPD am Rande des Nervenzusammenbruchs alle Ausgabenwünsche von den Lippen abzulesen. Wenn sich die Koalitionsverhandlungen noch lange hinziehen, wird's für Arbeitnehmer und Unternehmen ruinös. Unter den Augen der Kanzlerin vollzieht die Republik eine atemberaubende Kehrtwende: Die hart erkämpften Reformen zur Sicherung der Sozialsysteme werden verfrühstückt. Deutschland zahlt einen hohen Preis dafür, dass die Kanzlerin und der SPD-Chef ihre Jobs behalten dürfen."
Auch die "Mitteldeutsche Zeitung" findet wenig gefallen am Auftreten der Union: "Wie kann es sein, dass die CDU nach einem fast triumphalen Wahlergebnis derartig in die Defensive gerät?", fragt das Blatt aus Halle. "Die Antwort liegt wohl weniger in der mangelnden Verkaufskunst der Unionsführung. Es liegt eher daran, dass sie kaum etwas zu verkaufen hat. Ihr Wahlkampf hatte nur ein einziges Thema: Angela Merkel ist eine großartige Kanzlerin. Und er hatte ein einziges Ziel: Angela Merkel muss Kanzlerin bleiben."
Die "Pforzheimer Zeitung" beschäftigt sich mit der Stärke der SPD, die aus der Schwäche der Union resultiert. "Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein SPD-Politiker bedeutungsvoll in die Mikrofone spricht und Verhandlungsergebnisse als eigenen Triumph verkauft. Von der Union ist genau nichts zu hören. Sie verharrt trotz ihres prächtigen Wahlergebnisses ängstlich in der Defensive. Der Verlierer gibt den Takt vor. Das darf man den Sozialdemokraten nicht vorwerfen. Der Union dagegen schon. Die Passivität vor allem der CDU offenbart ein großes Maß an Hilflosigkeit. Und auch an Ignoranz. Denn für alle, die es vergessen haben: Auch die CDU hat eine Basis. Und die ist richtig sauer."
"Und während die Hand der Kanzlerin so ruhig ist, dass man ihre Bewegungen schon fast nicht mehr wahrnimmt, lässt im Willy-Brandt-Haus das Zittern einfach nicht nach", schreibet der Kommentator des "Badischen Tagblatts" aus Baden-Baden. "Es ist schon eine ziemlich groteske Situation: Nach dem Ende eines recht zähen Verhandlungsmarathons wird die SPD-Spitze keinen Füllfederhalter zur Hand haben, um die Unterschrift unter einen sehr detaillierten Koalitionsvertrag zu setzen. Und die SPD-Basis scheint auch nach dem Parteitag von Leipzig noch nicht in Stimmung zu sein, Sigmar Gabriel und Andrea Nahles die Tinte dafür zu liefern. Beide haben die von vielen Mitgliedern beklagte Basta-Politik beendet, jetzt könnte sie der Fluch der guten Tat treffen: Die gestärkte Parteibasis kann mit einem Nein schnell für Neuwahlen sorgen - und ihr gesamtes Führungsteam im Handstreich vom Platz holen."
Die "Volksstimme" aus Magdeburg sieht in den Koalitionsverhandlungen eine äußerst zähe Veranstaltung, glaubt aber nicht an Neuwahlen. "Um endlich etwas auf den Tisch packen zu können, hatte zuletzt SPD-Chef Sigmar Gabriel im Parteitagsüberschwang die Union ultimativ aufgefordert, endlich zu liefern. Dem ist CSU-Boss Horst Seehofer auf die ihm eigene Weise nachgekommen. Er hat ins Spiel gebracht, was den Sozialdemokraten mehr schaden kann als Steuererhöhungen: Neuwahlen nämlich. Würden die Deutschen erneut an die Urnen gerufen, stünden CDU und CSU mit ziemlicher Sicherheit als Gewinner da. Es muss ja nicht unbedingt die absolute Mehrheit sein. Doch die FDP, am 22. September aus dem Bundestag geflogen, könnte bei einer Neuauflage diese Scharte auswetzen. So dürfte es im zweiten Anlauf mindestens für Schwarz-Gelb reichen. Das erhöht den Druck auf die SPD-Verhandler, mit der Union erstens zu Resultaten zu kommen, die zweitens dem geplanten Mitgliedervotum standhalten."
Der Bonner "General-Anzeiger" befürchtet, dass die Koalitionsverhandlungen mit einem teuren Ergebnis enden. "Ein orientalischer Basar ist nichts gegen das, was derzeit in Berlin läuft. Groß und größer werden die Kommissionen und Arbeitskreise, klein und kleiner werden die Ergebnisse - logisch, bei der steten Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Und weil man es sich in der jetzigen Situation mit den Menschen und vor allem mit der eigenen Partei nicht verscherzen will (schließlich braucht die SPD sogar noch die Mehrheit in der Mitgliederbefragung!), darf es mit den Wohltaten immer noch ein bisschen mehr sein."
Dass die Kanzlerin am Ende der Verhandlungen als Gewinnerin dasteht, bezweifelt die "Neue Westfälische" aus Bielefeld. "CDU und CSU mögen die Wahlgewinner sein, eine überzeugende Alternative zu Schwarz-Rot haben sie nicht. Neuwahlen würden an den Kräfteverhältnissen kaum etwas verändern, und die Grünen gäbe es in einer Koalition ja auch nur zum Preis von Mindestlohn und doppelter Staatsbürgerschaft. Merkel wird sich den Umständen pragmatisch anpassen und ihre Partei noch ein Stück weiter nach links bugsieren. Das wird die in der CDU schwelende Debatte über das mangelnde eigene Profil und den nicht mehr identifizierbaren Markenkern befeuern. Ob die Merkel-CDU dieses Mal am Ende der großen Koalition wirklich als Gewinner dasteht, ist längst nicht ausgemacht."
Neuwahlen wären zu allererst ein Problem für die SPD, findet die "Saabrücker Zeitung". "Dass Neuwahlen noch nicht vom Tisch sind, ist richtig. Einigen sich Union und SPD auf einen Koalitionsvertrag, muss die Basis der Genossen dem Papier noch zustimmen. Tut sie es nicht, hat sich die SPD selbst vom Spielfeld gefegt. (...) Als Notnagel werden sich die Ökopaxe nicht missbrauchen lassen. Am Ende bleiben also nur Neuwahlen, mit deutlichen Vorteilen für das konservative Lager. Der Druck auf die schwarz-roten Verhandler wird somit von Tag zu Tag größer, der Ton rauer. Jetzt hat überdies tatsächlich der Kampf um die inhaltlichen Trophäen begonnen."
Lutz Haverkamp