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Türkische Migranten in Berlin-Kreuzberg in den 1970er Jahren
© dpa/Ullstein Bild

60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Der lange Weg in die neue Heimat

Vor 60 Jahren wurde das Anwerbungsabkommen mit der Türkei unterzeichnet. Es folgte eine wechselhafte Geschichte der Integration.

Es waren lediglich zwei kurze Seiten, es gab keinen Festakt für das folgenreiche Papier. Am 30. Oktober 1961 wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland unterzeichnet. In dessen Folge kamen bis 1973, als die Regierung Brandt einen Anwerbestopp verhängte, bis zu 900 000 Männer und Frauen zum Arbeiten nach Westdeutschland und Westberlin.

Ein Neuanfang war das nicht; die Bundesrepublik hatte zuvor schon mit Italien 1955 und danach mit Spanien und Griechenland Übereinkommen unterzeichnet. Weitere folgten. Aber die türkischen Einwander:innen spielten in der Geschichte des Einwanderungslands Deutschland eine besondere Rolle. Sie, ihre Kinder und deren Nachkommen bilden mit heute knapp drei Millionen Menschen schon seit den frühen 1970er Jahren die größte Einwanderergruppe in Deutschland.

Von vielen Alteingesessenen wurden sie als Fremde empfunden. Sogar Verachtung konnte ihnen entgegenschlagen. Der Autor und Politiker Thilo Sarrazin sagte in einem Interview, dass „Türken und Araber“ weitgehend „weder integrationswillig noch integrationsfähig“ seien. Sie seien „ohne produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“.

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Ein kühnes Urteil, wenn man die Geschichte der Gastarbeitereinwanderung betrachtet. Die boomende Wirtschaft der Bundesrepublik brauchte sie dringend, um den Verlust von männlicher Arbeitskraft auszugleichen, den der Krieg gerissen hatte und den Vertriebene und DDR-Flüchtige nur bis in die 50er Jahre ausgleichen konnten.

Vor allem aber brauchte man sie exakt für jene gefährlichen, schmutzigen und schlechtbezahlten Arbeiten in der Stahlindustrie und im Bergbau, die die Deutschen sich eher nicht zumuteten. Die Plackerei der Gastarbeiter:innen, die sie auf sich nahmen im Wissen um fehlende Perspektiven in der Heimat und in der Hoffnung auf ein besseres Leben, eröffnete vielen Deutschen erst jenen Aufstieg, von dessen Höhen sie wie Sarrazin auf sie herabschauen konnten.

Um Integration mussten sich die Migranten viele Jahre lang selbst kümmern

In seinem Standardwerk „Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland“ verweist der Freiburger Historiker Ulrich Herbert auf Zahlen des Soziologen Friedrich Heckmann: Demnach schafften es von 1960 bis 1970 etwa 2,3 Millionen Deutsche vom Arbeiterstatus in Angestelltenpositionen – wofür der Zuzug der Gastarbeiter die wichtigste Bedingung war. Dass hier auch Muster wirkten von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von Oben und Unten, die bis 1945 gegen „Fremdarbeiter“, also Zwangsrekrutierte und Kriegsgefangene,gerichtet waren, sei nie Teil der Vergangenheitsbewältigung gewesen, resümiert Herbert.

Dass Oben und Unten auch heute noch gemacht werden, daran erinnerte der Ko-Vorsitzende der Türkischen Gemeinde beim Festakt zum Jubiläum des Anwerbevertrags vor wenigen Wochen: Die angebliche Ghettoisierung sei oft die Folge von Zuzugsbeschränkungen gewesen, der mangelnde Schulerfolg das Ergebnis von „Türkenklassen“, sagte Atila Karabörklü. Vielen sei die Gymnasialempfehlung trotz bester Leistungen mit der Begründung verweigert worden, sie hätten ja keine Eltern, die ihnen helfen könnten.

Mit dem Anwerbestopp von 1973 und der Rückkehrprämie, die die Regierung Kohl 1983 allen Nicht-EU-Beschäftigten – also in der Hauptsache Türk:innen – zahlte, um sie zur Rückwanderung zu bewegen, trat diese Hierarchie offen zutage. Kohl hatte, gerade im Amt, seiner britischen Kollegin Margaret Thatcher anvertraut, er wolle die Hälfte der Türk:innen binnen vier Jahren loswerden, die meisten seien mit ihrer „sehr anderen Kultur“ nicht integrierbar.

Als Hass tobte sich die Abneigung in den Anschlägen von Mölln und Solingen 1992 und 1993 aus, die türkisch bewohnten Häusern galten. Drei beziehungsweise fünf Frauen und Mädchen türkischer Herkunft starben. Und viele andere, auch der jungen Generation, fragten sich, ob sie das wiedervereinigte Almanya tatsächlich weiter als Zuhause betrachten konnten – und wollten.

Die türkischen Einwanderer brachten auch ihre Religion mit, hier die Zentralmoschee der Ditib-Verbandes in Köln.
Die türkischen Einwanderer brachten auch ihre Religion mit, hier die Zentralmoschee der Ditib-Verbandes in Köln.
© dpa/Rolf Vennenbernd

Zu Anderen gemacht, mussten sich diese Anderen um Integration, ein Schlüsselbegriff der deutschen Politik erst seit der Jahrtausendwende, viele Jahre lang selbst kümmern. Erst in der alten, dann in der vereinten Bundesrepublik, oft mit Hilfe deutscher Nachbarn, Kolleg:innen, Freunde.

Im Sammelband „Der lange Marsch der Migration“ erinnert Murat Çakir an die lange selbstorganisierte Integrationsarbeit der türkischen Gastarbeitergeneration, die schon mit den ersten Tagen in Deutschland begann. Weder vom türkischen Staat gab es Hilfe, der froh war, wenigstens Teile einer jungen Generation ohne Jobchancen loszusein, noch vom deutschen, der eben diese Arbeitskräfte wollte und an den Menschen, die kamen, lange kein Interesse zeigte.

Wo die deutsche Gesellschaft die Fühler ausstreckte, konnte sie früh auf diese deutsch-türkische Selbstorganisation zurückgreifen: Die Arbeiterwohlfahrt, die das Bundesinnenministerium 1962 beauftragte, die Sozialberatung und -betreuung der türkischen Arbeitskräfte zu übernehmen, rekrutierte ihre Beratungsstellen „Türk Danis“ bereits aus türkischen Netzwerken. Die Gewerkschaften bildeten in den 1970ern eigene „Ausländerausschüsse“, allen voran die IG Metall. Doch beim „Türkenstreik“ von 1973, dem wohl bedeutendsten migrantischen Arbeitskampf gegen ihre Arbeitsbedingungen, hatte die türkeistämmige Belegschaft – die zeitweise 40 Prozent bei Ford ausmachte – ihre Gewerkschaft noch gegen sich.

Heute heißen deutsche Fußball-Nationalspieler Ilkay Gündogan

Inzwischen sind auch türkische Selbstorganisationen anerkannter Teil der deutschen Verbändedemokratie geworden, auf deren Expertise und Vermittlung Politik und Behörden immer öfter so selbstverständlich bauen wie auf die von Sportorganisationen, Wirtschaftsverbänden oder Kirchen. Zwischen 12.400 und 14.300 aktive und als Verein eingetragene migrantisch geprägte Organisationen, viele von ihnen türkisch, zählten letztes Jahr die Forscher:innen des Sachverständigenrats Integration und Migration.

Markus Kerber, Staatssekretär im Bundesministerium, benannte dabei das erste Jahr Merkel, 2005, als Wendepunkt in Ministerien und Verwaltung. Vorausgegangen war freilich ein jahrelanger Streit um die rot-grüne Reform des Staatsbürgerschaftsrechts 1999, bis die Einwanderungsgesellschaft bis in die Union hinein akzeptiert war. Regelmäßige Nationale Integrationsgipfel und die 2007 ins Leben gerufene Deutsche Islam-Konferenz zeugen inzwischen von einem fast geschäftsmäßigen Umgang mit ihren Herausforderungen – ebenso wie Gründung und Wahlerfolge der AfD vom Weiterleben des Widerstands dagegen.

[Lesen Sie hier eine Kolumne von Hatice Akyün über Migration und Beruf: Wenn der Hintergrund in den Vordergrund tritt (T+)]

Heute heißen deutsche Fußball-Nationalspieler Ilkay Gündogan, deutsche Politikerinnen Filiz Polat, Regisseure Fatih Akin, Intendantinnen Shermin Langhoff. Der Mainzer Forscher Ugur Sahin hat den Biontech-Impfstoff entwickelt. Auch er eines der vielen Migrantenkinder, die ihre Lehrer:innnen nicht fürs Gymnasium empfehlen wollten und die es nur gab durch das Engagement von Nachbar:innen, Ersatz-Großeltern, Lehrkräften, die an sie glaubten.

An diese Erfolgsgeschichten erinnerte Gökay Sofuoglu von der Türkischen Gemeinde in seiner Rede zu 60 Jahren Anwerbevertrag mit einem Augenzwinkern: „Wir danken explizit dem Nachbarn von Ugur Sahin.“

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