Abhängig von EU-Geldern: Der Kater nach dem Brexit
Mick Bishop hat sie gewarnt, doch es wollte keiner hören: Die Stadt Ebbw Vale stimmte für den Brexit. Mit der größten Mehrheit im ganzen Land – dabei hängt alles hier am Fördergeld der EU
Mitten in Ebbw Vale steht ein Pub. Davor dicke Männer, die rauchen und Bier trinken. Der kastenförmige Bau war früher mal ein Kino. „The Picture House“ steht noch in großen Buchstaben aus Metall über dem Eingang. Erinnerung an bessere Zeiten, die sie in diesem kleinen Städtchen in Wales durchaus hatten. Nun Treffpunkt für Stammtische, Junggesellenabschiede und Menschen wie Cara Bayliss.
Der Pub hat seit 8 Uhr morgens offen
Der Pub hat seit 8 Uhr morgens offen, Bayliss, 27, sitzt mit zwei Freundinnen vor einer Flasche Rosé. Kurze Sommerkleider, viel Make-up. Es gibt etwas zu feiern, denn Cara Bayliss hat eine vierjährige Tochter und geht zum ersten Mal seit Monaten wieder aus. Es gibt aber auch etwas zu vergessen. Im Juni war sie zum ersten Mal in ihrem Leben wählen. „Ich hatte all diese Flugblätter in meinem Briefkasten“, sagt sie. Auf einem von ihnen stand, dass im Falle des Brexits 350 Millionen Pfund mehr pro Woche für das britische Gesundheitssystem ausgegeben würden. „Das fand ich gut.“ Sie stimmte für den EU-Austritt. Einen Tag nach dem Referendum wurde das Versprechen zurückgezogen. Seitdem bereut Bayliss ihre Entscheidung.
Wie ihr geht es gerade vielen Briten. Die wirtschaftlichen Prognosen sind so schlecht wie seit der Finanzkrise nicht mehr. Langsam beginnen die Menschen zu spüren, was der Brexit für das Land bedeuten könnte. Schon jetzt verliert Großbritannien Geld, Einfluss und Jobs. Die Immobilienpreise fallen, Investitionen werden aufgeschoben. Auch wenn der niedrige Kurs des Pfundes die schlimmsten Folgen derzeit noch kompensiert und die Wirtschaft am Laufen hält: Spätestens 2017 könnte das Land nach Schätzungen der Finanzexperten in eine Rezession rutschen. Was dann bleibt, ist das ungute Gefühl, dass es davor eben doch ein wenig besser war. In Cara Bayliss Heimatstadt kennen sie dieses Gefühl, sie haben sogar ein eigenes Wort dafür.
„Hiraeth“ ist Walisisch und lässt sich nicht ins Deutsche übersetzen oder durch ein englisches Wort ausdrücken. Es bezeichnet eine Mischung aus Heimweh, Sehnsucht und Trauer um Menschen oder Dinge, die verloren gingen. Und in der 33 000-Einwohner-Stadt Ebbw Vale im Südosten von Wales lässt sich gerade sehr gut beobachten, wie sich Hiraeth langsam in ganz Großbritannien auszubreiten scheint.
Der Landkreis Blaenau Gwent, in dem auch Ebbw Vale liegt, ist eine der ärmsten Regionen Großbritanniens. Rund neun Prozent der Bevölkerung hier sind arbeitslos, im Jahr 2013 lebten 30 Prozent der Kinder in Armut. Die EU bezeichnet Gegenden wie Blaenau Gwent als „weniger entwickelte Regionen“ und unterstützt sie durch Fördergelder aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Insgesamt flossen seit 2000 rund 4,7 Milliarden an Fördergeldern nach Wales. Die Gegend, die am meisten davon profitierte, war Blaenau Gwent. Trotzdem wollten 62 Prozent der Wähler hier raus aus der EU, die größte Mehrheit im ganzen Land.
Als Nigel Farage am Tag nach dem Referendum den Britischen Unabhängigkeitstag ausrief, fühlten sie sich auch in Ebbw Vale als Gewinner. Die BBC interviewte wenige Tage nach der Entscheidung die Menschen in der Stadt. Die meisten sagten, dass sie froh seien über die Unabhängigkeit. Trotzig schauten sie in die Kamera. Die kleine Stadt hatte es „denen da oben“ gezeigt. Mit „denen da oben“ meinten in Ebbw Vale aber viele nicht die EU. Es ging beim Referendum für sie auch um Protest gegen das britische Establishment. Politiker kämen immer nur , wenn gerade Wahlen anstünden, sagen manche in Blaenau Gwent. Sie fühlen sich mit ihren Problemen allein gelassen. Die Brexit-Wahl war genauso ein Denkzettel für Westminster wie für Brüssel.
Von dem Triumph ist nichts mehr zu spüren
Von dem Triumph ist heute in Ebbw Vale nichts mehr zu spüren. Die Stadt liegt auf halber Höhe am Rand eines Tals, der Weg führt vorbei an verwilderten Grünstreifen, die von der Kommune nicht mehr gepflegt werden können, und vernagelten Schaufenstern. Immer wieder ragen „Zu vermieten“-Schilder über den Bürgersteig in die Straße. An einem Bekleidungsgeschäft auf dem Stadtplatz hängen große Plakate vor der Auslage. „Wir schließen“ steht da. Etwas weiter die Straße hinunter säumen Ziegelhäuser mit Stuckfenstern den Weg. An vielen der Fassaden blättert der Putz ab. Die Farben sind verblichen, wie eine über die Jahre vergilbte Fotografie, belichtet, als die Welt noch in Ordnung war.
In den späten 1930er Jahren war die Stadt Standort der „Ebbw Vale Steelworks“, des größten Hüttenwerkes in Europa. In den 1960er Jahren arbeiteten rund 12 000 Menschen im Werk. Wie eine glühende Lunge füllte es das Tal, das heute brach daliegt. Der Abstieg der Stadt begann kurze Zeit später. In nur vier Jahrzehnten verringerte sich die Belegschaft des Stahlwerks auf 1200 Arbeiter, 2002 wurde es zurückgebaut. Die Stahlstadt Ebbw Vale gab es von da an nicht mehr.
Die EU sprang überall ein
Die EU sprang ein, wo sich der Landkreis vorher selbst helfen konnte. Schule, Freizeitzentrum, Krankenhaus, Autobahn. Der abstrakte Apparat EU ist hier greifbar, markiert mit blauen Schildchen. „Europa und Wales investieren in eure Zukunft“, steht darauf.
Mick Bishop hat Hiraeth kommen sehen. Er hat es vorhergesagt, nur hat ihm kaum jemand zugehört. Bishop, 66, schlohweißes Haar, steht ein paar hundert Meter vom Pub entfernt am Stadtrand von Ebbw Vale und lässt die Schultern hängen. „Ich glaube, die Leute haben nicht verstanden, wie viel sie von Europa profitiert haben“, sagt er.
Als Schriftführer der örtlichen Labour-Partei organisierte Bishop die Kampagne für den Verbleib in der EU. „Der Bahnhof ist auch von der EU bezahlt worden“, sagt er und zeigt auf die Endstation des Zuges von Cardiff nach Ebbw Vale. Sie liegt gleich neben der von der EU finanzierten Schule.
Fast alle erzählen Geschichten vom Stolz der alten Zeit, von einer ruhmlosen Gegenwart und einer ungewissen Zukunft
Aus seiner Tasche zieht Bishop ein Flugblatt. Nur einige knappe Fakten: 3295 Menschen aus Blaenau Gwent sind in EU-geförderter Ausbildung, 8,7 Millionen Euro gab die EU für den Neubau des Colleges, 94 Millionen Euro flossen in den Bau der zweispurigen Autobahn, die die zuvor abgelegenen Täler mit der Außenwelt verbindet. Über jedem Absatz steht: „Wussten Sie schon ...“.
Wusste kaum jemand, hat aber auch niemanden interessiert. Auf Facebook hatte Bishops Kampagne am Ende 58 Likes. „Ich habe schnell gemerkt, dass es da eine Anti-EU-Stimmung gab“, sagt Bishop. Es fällt ihm immer noch schwer, die Entscheidung seiner Landsleute nachzuvollziehen. Er lacht müde. Rein logisch sei das nicht zu erklären. „Truthähne stimmen für Weihnachtsbraten“ war nur eine der Schlagzeilen, mit denen sich Zeitungen über den Landkreis lustig machten.
Es gibt auch Menschen in Ebbw Vale, die im vollen Wissen um die Vorteile der EU-Mitgliedschaft trotzdem für den Brexit gestimmt haben. Einer von ihnen ist Gareth Watkins. Treffen in einem anderen Pub, mehr Restaurant, weniger Trinkhalle, am anderen Ende des Tales, drei Kilometer vom Bahnhof entfernt. Früher reichte das Stahlwerk bis hierher. Heute ist es ein Neubaugebiet, Einfamilienhäuser und Sozialbauten mit kleinen Vorgärten. Watkins sitzt an einem der hinteren Tische und trinkt Kaffee. Er ist in Ebbw Vale geboren, bis heute lebt er in der Stadt. Anders als viele andere hatte der 30-jährige Tierarzt sich bereits Monate vor dem Referendum entschieden. Er finde die EU undemokratisch und intransparent, sagt er fast ein wenig staatsmännisch bei seiner zweiten Tasse Kaffee. Man kann umsonst nachfüllen so oft man möchte. Die Förderungen haben an seiner Einstellung jedenfalls nichts geändert. „Es ist ja nett von der EU, dass sie uns Geld geschenkt haben, aber Arbeitsplätze hat es uns nicht gebracht“, sagt Watkins. Außerdem seien viele der Investitionen doch wirklich fehlgeleitet.
Wer nach weiteren Gründen sucht, muss nur einmal durch Ebbw Vale spazieren und mit den Menschen reden. Sie erzählen fast alle Geschichten vom Stolz der alten Zeit, von einer ruhmlosen Gegenwart und einer ungewissen Zukunft. Sie erzählen Geschichten voller Hiraeth.
Früher das Stahlwerk - heute Museum
Das einzige alte Gebäude im Tal vor der Stadt ist ein roter Ziegelbau mit Glockenturm. Früher waren dort die Büros des Stahlwerks untergebracht, heute ist es das Stadtmuseum. Noel Evans sitzt in Jeans und Streifenshirt auf einem Drehstuhl in einem der Archivräume des Museums, ein kleiner 69-Jähriger mit Bierbauch, Brille und lichten Haaren, die etwas zu braun sind für sein Alter. Plakate und Fotos hängen an den Wänden, sie zeigen Menschen bei der Arbeit am Schmelzofen. In den Regalen drängen sich Ordner. „Muss alles digitalisiert werden“, sagt Evans. Das sei jetzt seine Aufgabe. Früher war er im Werk angestellt, heute verwaltet er die Erinnerung an seinen einstigen Arbeitgeber.
Dass die Gebäude um das Museum herum mithilfe der EU gebaut wurden, weiß Evans. Und es ärgert ihn: „Wir konnten nie wirklich darüber entscheiden, wofür das Geld verwendet wird.“
Er hievt sich aus seinem Stuhl und geht auf eine lange Regalwand zu. Vorsichtig hebt er einen großen ziselierten Silberpokal vom Regal. „Bestes Sanitätsteam“ steht darauf. Daneben reihen sich noch weitere Auszeichnungen. „Wir hatten hier alles, als es das Werk noch gab. Eigene Sozialversicherung, eigene Ärzte.“ Evans erzählt von den Sportvereinen, von den Theaterstücken, die sie jedes Jahr zu Weihnachten aufführten. „Die Menschen haben sich um sich selbst gekümmert.“ Evans ist gefangen in seinem ganz eigenen Hiraeth: Beim Referendum hat er für die EU gestimmt. „Ich wünschte, ich wäre mutig genug gewesen, Brexit zu wählen.“
Am Ende der Hauptstraße dringt getragener Gesang aus einem Probenraum. Als vor 167 Jahren der Männerchor von Ebbw Vale hier das erste Mal übte, war Großbritannien noch Weltreich, später herrschte das Imperium über ein Viertel der Erdfläche. Die meisten der Sänger sind um die 80 Jahre alt. Viele von ihnen haben früher im Stahlwerk gearbeitet. Sie haben Aufstieg und Fall der Stadt wie auch den Anfang und das Ende der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens miterlebt. Wer, wenn nicht sie könnte erklären, warum die Bürger von Ebbw Vale so dringend rauswollten aus der EU?
Sie wollen nicht streiten - sie singen lieber
Sie könnten schon, sagen sie. Sie wollen aber nicht. Hier gehe es nur um Musik. „Okay, boys, noch mal“, ruft der Chorleiter. Die Männer beginnen wieder zu singen: „Was würd ich nur ohne meine Musik tun, die Dinge gut macht, wenn alles falsch erscheint?“
Ja, was?
Denn wie es scheint, läuft die Regionalförderung nur noch bis 2020. Und dass die britische Regierung, wie angekündigt, die Gelder, die bisher von der EU kamen, selbst aufbringt, bezweifeln viele. Ebbw Vale ist Labour-Kernland, es gibt kaum Wählerstimmen zu gewinnen für die konservative Regierung um Premierministerin Theresa May. Da fragt sich nicht nur Labour-Mann Mick Bishop: Warum sollten die Geschenke machen?
Dabei hatte Bishop gerade wieder Hoffnung geschöpft für seine Heimat. Er setzte wie so viele im Landkreis auf den „Circuit of Wales“ - eine große Rennstrecke, die wenige Kilometer vor der Stadt gebaut werden soll. 6000 Jobs könnten so geschaffen, Besucher für die Gegend gewonnen werden. Die Rennstrecke, sie wäre Blaenau Gwents Chance auf eine selbstbestimmte Zukunft gewesen, sagt Bishop. Sein Blick ist traurig und nachdenklich, es ist Hiraeth, keine Frage.
Kürzlich hat die walisische Regierung angekündigt, dass die Rennstrecke ohne das Geld der EU wohl nicht verwirklicht werden könne.