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Ein Hochhaus in Gaza stürzt nach einem Luftangriff Israels ein.
© MOHAMMED ABED / AFP

Der vergessene Nahostkonflikt: Der Kampf um jeden Meter Land geht weiter - auch wenn niemand hinschaut

Radikale Siedler wollen die Palästinenser aus Ost-Jerusalem vertreiben. Jeder Gewaltausbruch hat eine Vorgeschichte. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Gewalt bricht aus, wenn alle anderen Kanäle verstopft sind, die Hoffnung schwindet – dann reicht ein Funke oder eine Provokation.

So lässt sich erklären, warum die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern derzeit eskaliert: Auslöser war die anstehende Vertreibung mehrerer Palästinenserfamilien aus ihren Häusern in Ost-Jerusalem.

Dieser Teil der Stadt steht laut Völkerrecht den Palästinensern zu, aber Israel hat ihn annektiert. Hier führen radikale israelische Siedlerorganisationen eine Art Häuserkampf, bei dem Haus um Haus versucht wird, jüdische Besitzverhältnisse von vor 1948 nachzuweisen und damit möglichst viele palästinensische Bewohner endgültig aus Ost-Jerusalem zu vertreiben.

Grundlage ist ein israelisches Gesetz, das dies erlaubt. Für Palästinenser gilt das umgekehrt nicht. Dass die Vereinten Nationen diese Art des Bevölkerungstransfers in besetzten Gebieten als illegal brandmarken, stört niemanden. Es handele sich dabei möglicherweise um ein „Kriegsverbrechen“, erklärte der Sprecher des UN-Menschenrechtsbüros (UNHCR), Rupert Colville.

Ausgerechnet am Jerusalem-Tag sollte über die Vertreibung von Palästinenserfamilien verhandelt werden

Die entscheidende Anhörung vor Gericht für die Zwangsräumung wurde nun ausgerechnet auf den Jerusalem-Tag am 10. Mai gelegt, an dem radikale Israelis die Eroberung Ost-Jerusalems mit Märschen durch palästinensische Wohngebiete feiern, was von den Palästinensern als Provokation empfunden wird. Das war eine ausreichend explosive Mischung.

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Aber dies war eben nur der Auslöser. Ursache ist die Verzweiflung und der Frust großer Teile der Palästinenser über den totalen politischen Stillstand intern wie extern: Gerade erst hatte Präsident Abbas Wahlen zum Parlament und zu den PLO-Institutionen angekündigt, da wurden sie auch schon wieder „auf unbestimmte Zeit“ verschoben. Dabei liegen die letzten Abstimmungen mehr als 15 Jahre zurück.

Die Gründe sind vielfältig: Die Fatah ist zerstritten, Abbas musste den Machtverlust fürchten; die Angst vor einem Wahlsieg der rivalisierenden Hamas ist groß, auch in den Nachbarländern und in der EU. Daher war deren Unterstützung für das komplexe Unterfangen, Wahlen in besetzten Gebieten abzuhalten, mau.

Und Israel, das ziemlich genau weiß, wie man welche Reaktion triggern kann, hat nicht zusichern wollen, dass die Bewohner Ost-Jerusalems abstimmen dürfen – obwohl dies in den Oslo-Verträgen vertraglich festgelegt ist. Und alle wissen, dass es keine legitimen palästinensischen Wahlen geben wird, wenn die Bewohner Ost-Jerusalems ihr Wahlrecht nicht ausüben dürfen.

Unter Trump konnte Israels Premier Netanjahu den Durchmarsch machen

Das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass Europa und die USA sich nicht mehr für den Konflikt interessieren, nachdem Israels Premier Netanjahu unter US-Präsident Trump den Durchmarsch machen konnte: Die US-Botschaft wurde nach Jerusalem verlegt. Trump unterstützte auch den Plan zu Annexion der Westbank. Sein Nachfolger Biden geht zwar auf Distanz zu Netanjahu und will gegen dessen Willen den Atomdeal mit Iran wiederbeleben. Aber der Nahostkonflikt hat keine strategische Priorität mehr. So hat Biden noch immer keinen Botschafter für Israel ernannt, und die Botschaft bleibt in Jerusalem.

In dieser „aussichtslosen“ Lage schlägt die Stunde der islamistischen Hamas, die Tatkraft suggeriert, indem sie israelische Städte mit Raketen beschießt. Das ist Terror, ein elender Kreislauf, wohlbekannt. Zudem befindet sich Israel mitten in einer schwierigen Regierungsbildung, nachdem Netanjahu gescheitert ist. Dass er sich jetzt als amtierender Premier militärisch als starker Mann inszenieren kann, wird ihm nicht missfallen. Keine gute Mischung. Gerade werden viele rote Linien überschritten.

Eine robuste westliche Initiative zur Unterstützung palästinensischer Wahlen, mit dem nötigen Druck auf Israel, hätte eine Perspektive für Veränderung bieten können. Ob sie jetzt noch die Gewaltspirale unterbrechen kann, ist fraglich. Aber Wegschauen gilt nicht. Es rächt sich.

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