"Starke-Familien-Gesetz": Der Kampf gegen Kinderarmut – und die Bürokratie
In Berlin-Wedding stellen Familienministerin Giffey und Arbeitsminister Heil das "Starke-Familien-Gesetz" vor. Von Sozialverbänden kommt Kritik.
Mit Brennpunkt-Kiezen kennt sich Franziska Giffey (SPD) noch aus ihrer Zeit als Neuköllner Bürgermeisterin aus. Ihr sogenanntes „Starke-Familie-Gesetz“ stellte sie am Mittwoch gemeinsam mit Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) medienwirksam aber in einem anderen Brennpunkt vor: In Wedding. Von Kitamangel, maroden Schulen und zu viel Bürokratie etwa bei der Beantragung des Kinderzuschlags berichteten den Ministern einige Eltern bei ihrem Besuch im Paul Gerhardt Stift in der Müllerstraße. Zumindest bei Letzterem soll sich mit dem neuen Gesetz etwas ändern.
„Wir wollen der Kinderarmut in Deutschland etwas entgegensetzen“, sagte Giffey. Noch immer ist jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik von Armut bedroht oder erlebt sie täglich. Die Zahlen sind seit Jahren konstant hoch, je nach Definition und Verrechnung steigen sie sogar. Daher soll nun der Kinderzuschlag von maximal 170 auf 185 Euro erhöht werden.
Wo die Eltern arbeiten gehen, damit aber zu wenig für ihre Familie erwirtschaften, hilft der Staat mit diesem Zuschlag aus. Betroffen sind davon inzwischen 2,8 Millionen Kinder. Giffey versprach zudem, die Beantragung des Kinderzuschlags zu vereinfachen, indem die Formulare online zugänglich gemacht werden. Es solle möglich sein, den Antrag „auf dem Smartphone“ ausfüllen zu können, sagte Giffey.
Für Schulmaterial gibt es bis zu 150 Euro
Neben den Neuerungen beim Kinderzuschlag sieht der Gesetzesentwurf auch Änderungen beim Bildungs- und Teilhabepaket vor. Familien mit kleinem Einkommen bekämen dann 150 Euro pro Jahr für Schulmaterial – eine Erhöhung um 50 Euro. Zudem müssten die Eltern keinen Anteil mehr am Mittagessen in der Schule bezahlen; auch die Schultickets für Bus- und Bahn sollen kostenlos werden. „Der ganze Kladderadatsch kommt weg“, sagte Arbeitsminister Heil.
Vielen Sozialverbänden gehen die Änderungen nicht weit genug. „Es fehlt der große Wurf und eine Gesamtstrategie“, beklagt der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerk, Holger Hofmann. Er sieht nur „kleinschrittige Verbesserungen“. Ihn stört, dass es noch immer keine seriösen Berechnungen dazu gibt, wie viel ein Kind für Versorgung, soziale Teilhabe und Bildung benötige.
Förderung kommt oft nicht an
Der Kinderzuschlag gilt als sozialdemokratisches Lieblingsprojekt der Familienpolitik. Als fast letzte Amtshandlung wurde er 2005 von der damaligen Familienministerin Renate Schmidt auf den Weg gebracht, später erhöhte ihn Ministerin Manuela Schwesig, die heutige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, von 140 auf 170 Euro. Die Wirksamkeit ist aber fraglich. „Bürokratiemonster“, nennen Kritiker den Zuschlag.
Die Zahlen verdeutlichen dies: Derzeit haben etwa 800.000 Kinder Anspruch auf die Leistung, doch sie kommt nur bei gut 30 Prozent an. Die anderen scheitern an der Bürokratie oder versuchen es gar nicht erst. Mit dem neuen Gesetz soll sich die Zahl der Anspruchsberechtigten auf zwei Millionen erhöhen. Doch ob sich dadurch auch die Zahl der tatsächlichen Bezieher erhöht, ist fraglich.
Grünen-Chefin: "Vertane Chance"
„Wer versiert darin ist, Anträge zu stellen, der wird deutliche Verbesserungen spüren. Viele andere Menschen werden aber leer ausgehen“, prognostiziert Hofmann. Er fordert eine zentrale Anlaufstelle für bedürftige Familien. Derzeit müssen die verschiedenen Nachweise für die Bearbeitung des Kinderzuschlags bei Jobcenter, Jugendamt und Co. separat eingeholt und eingereicht werden.
Ähnlich sieht es die Grünen-Chefin Annalena Baerbock: „Die Auszahlung des Kinderzuschlags muss endlich so einfach werden wie heute die Förderung von Spitzenverdienern über den Kinderfreibetrag. Das gelingt nur über eine automatische Auszahlung“, sagte sie dem Tagesspiegel. Es müsse sichergestellt sein, dass alle Kinder, die einen Anspruch darauf haben, den Kinderzuschlag auch erhalten. Ihr Fazit: „Das Familienstärkungsgesetz ist eine vertane Chance, Teilhabechancen für alle Kinder unabhängig vom Elternhaus und Wohnort sicherzustellen.“
"Die Leute werden arm, weil sie Kinder haben"
Auch Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, kritisiert das „Starke-Familie-Gesetz“ als „Propaganda-Überschrift“, weil es weiter ein Bürokratiegesetz bleibe. Selbst Mitarbeiter in den Ämtern bräuchten für die Bearbeitung der Anträge spezielle Lehrgänge. Er sieht einen Systemfehler, bei dem die Löhne zu niedrig seien. „Die Leute werden arm, weil sie Kinder haben“, sagte er. Außerdem priorisiere die staatliche Unterstützung nicht die Bekämpfung der Kinderarmut. Hilgers Prognose deshalb: „Trotz bester Konjunktur und niedriger Arbeitslosigkeit wird die Kinderarmut in den nächsten Jahren wieder steigen.“
Hilgers hofft, dass der Gesetzesentwurf, der teilweise zum 1. Juli in Kraft treten soll, im Bundestag und Bundesrat noch einmal überarbeitet wird. Schon allein aus ökonomischer Sicht, wie er sagt: „Wir hinterlassen der künftigen Generation eine marode Infrastruktur, zwei Billionen Euro Staatsschulden, eine kaputte Umwelt, uns selbst als alte Menschen und eine junge Generation, die zu einem Drittel aus Leistungsbeziehern, statt Leistungsträgern besteht.“