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Ein Video des türkischen Senders Haberturk TV zeigt den Absturz der abgeschossenen russischen Jagdbombers.
© dpa

Türkei schießt russischen Kampfbomber ab: Der IS profitiert vom Streit

Der Abschuss eines russischen Kampfbombers durch das Nato-Mitglied Türkei verstärkt die Sorge vor einer militärischen Eskalation. Droht nun eine Ausweitung des Syrien-Konflikts? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Der Nato-Staat Türkei schießt ein russisches Militärflugzeug ab – diese Nachricht verstärkt die Sorge, dass es im Syrien-Konflikt zu einer weiteren Eskalation kommen könnte. Die Türkei und Russland machten widersprüchliche Angaben über den Hergang des Zwischenfalls. In Brüssel kamen die Botschafter der Nato-Staaten zu einem außerordentlichen Treffen zusammen. Einen vergleichbaren Vorfall hat es seit dem Korea-Krieg 1952 nicht mehr gegeben.

Wie begründet die Türkei den Abschuss des russischen Kampfflugzeugs?

Die amtliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete, der russische Jagdbomber vom Typ SU-24 sei gegen 9.20 Uhr Ortszeit (8.20 Uhr MEZ) in den türkischen Luftraum eingedrungen. Die Besatzung des russischen Flugzeugs sei innerhalb von fünf Minuten zehn Mal gewarnt worden. Als die Maschine dennoch nicht umkehrte, sei sie von zwei türkischen F-16-Jets „bekämpft“ worden. Anadolu veröffentlichte eine Radaraufnahme der türkischen Armee, die nach türkischer Darstellung die Grenzverletzung klar beweisen soll.

Das Flugzeug ging auf der syrischen Seite der Grenze nieder. Das dortige Gebiet wird von den syrischen Turkmenen beherrscht, einer mit der Türkei verbündeten Volksgruppe. Ein Kommandeur der Turkmenen sagte, seine Miliz habe die beiden russischen Piloten erschossen, nachdem sich diese per Schleudersitz und Fallschirm aus der brennenden Maschine retten konnten.

Was sagt Russland dazu?

Russland bestreitet, dass das Militärflugzeug überhaupt im türkischen Luftraum war. Während der gesamten Flugzeit sei die Maschine über syrischem Territorium geflogen, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau. Der russische Präsident Wladimir Putin betonte, die Maschine vom Typ SU-24 sei über Syrien abgeschossen worden und vier Kilometer von der türkischen Grenze entfernt abgestürzt.

Der Jagdbomber stürzte auf syrisches Gebiet.
Der Jagdbomber stürzte auf syrisches Gebiet.
© dpa

Was ging dem Zwischenfall voraus?

Bisher hatten beide Länder versucht, ihr enges Verhältnis nicht durch den Syrien-Konflikt beschädigen zu lassen. In diesem zählt die Türkei zu den Gegnern des syrischen Präsidenten Baschar al Assad, während Russland Assads wichtigster internationaler Partner ist. Moskau und Ankara hatten nach mehrfachen Luftraumverletzungen durch russische Flugzeuge seit September vereinbart, einen Zusammenstoß an der Grenze zu vermeiden. Doch im Nordwesten Syriens eskalieren die Kämpfe, weil sich die Konfliktparteien vor einem möglichen Waffenstillstand in den kommenden Wochen noch Geländegewinne sichern wollen.

Warum schossen die Türken die Maschine ausgerechnet jetzt ab?

Türkische Regierungsmitglieder und Militärs sahen sich nach mehrmaligen Warnungen an die Adresse Moskaus und nach Beschwerden über russisch-syrische Angriffe auf die Turkmenen offenbar gezwungen, auch einmal zu handeln, statt nur zu reden. Erst in den vergangenen Tagen hatte Ankara die russische Regierung wegen fortgesetzter Angriffe auf Siedlungsgebiete der Turkmenen unmittelbar an der türkischen Grenze gewarnt. Türkische Oppositionspolitiker hatten der Regierung in Ankara zuletzt vorgeworfen, die Turkmenen im Stich gelassen zu haben. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu erklärte, die Türkei habe das Recht, sich gegen Luftraumverletzungen zu verteidigen.

Wie reagiert Moskau auf den Zwischenfall?

Der russische Präsident Wladimir Putin warf der Türkei nach dem Abschuss des russischen Militärflugzeugs vor, den IS zu unterstützen. „Der heutige Verlust ist verbunden mit einem Schlag in den Rücken, den uns die Helfershelfer der Terroristen versetzt haben“, sagte Putin am Rande eines Treffens mit dem jordanischen König Abdullah II. Zugleich betonte der Präsident, dass das Kampfflugzeug die Sicherheit der Türkei nicht bedroht habe. Vielmehr seien russische Flugzeuge im Kampf gegen den IS im Einsatz.

Putin warf der Türkei auch vor, sich nach dem Zwischenfall nicht zuerst an Moskau, sondern an die Nato gewandt zu haben, „als hätten wir ein türkisches Flugzeug abgeschossen und nicht sie unseres“. Und er fügte hinzu: „Was wollen sie tun, die Nato in den Dienst des IS stellen?“ Der Abschuss des Militärflugzeugs werde „ernste Konsequenzen“ für die russisch-türkischen Beziehungen haben, sagte Putin. Welche das sein würden, ließ er zunächst offen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte seinen für diesen Mittwoch in der Türkei geplanten Besuch ab – und empfahl auch allen anderen Russen, die Türkei nicht zu besuchen. Sollten die russischen Touristen tatsächlich ausbleiben, würde das die Türkei durchaus treffen.

Die rote Linie auf diesem Radarbild zeigt nach Angaben des türkischen Innenministeriums die Flugroute des russischen Jagdbombers.
Die rote Linie auf diesem Radarbild zeigt nach Angaben des türkischen Innenministeriums die Flugroute des russischen Jagdbombers.
© Reuters

Was bedeutet der Abschuss einer russischen Maschine durch einen Nato-Staat für das Militärbündnis?

Auf Antrag der Türkei kam die Nato noch am Dienstagnachmittag zu einer Sondersitzung zusammen. Ein Sprecher des Militärbündnisses betonte, es handele sich bei dem außerordentlichen Treffen nicht um Konsultationen nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrags. Darin heißt es: „Die vertragschließenden Staaten werden in Beratungen miteinander eintreten, wenn nach der Meinung eines von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit irgendeines der vertragschließenden Staaten bedroht ist.“ In der Geschichte der Nato wurde dieser Artikel nur fünfmal in Anspruch genommen – meistens von der Türkei. Dass Ankara in diesem Fall darauf allerdings verzichtet, zeigt, dass die türkische Führung nicht von einer direkten Bedrohung als Folge des Abschusses ausgeht – und dass die Nato den Eindruck einer weiteren Eskalation unbedingt vermeiden will. Doch alle Beteiligten wissen auch, dass im Fall einer russischen Vergeltungsaktion die Nato-Partner gemäß Artikel 5 zum Beistand verpflichtet wären.

Das Kampfflugzeug stürzt auf syrischen Boden. Die beiden Piloten konnten das Flugzeug mit Schleudersitz und Fallschirm verlassen, wurden aber von turkmenischen Rebellen nach deren Angaben in der Luft tödlich getroffen.
Das Kampfflugzeug stürzt auf syrischen Boden. Die beiden Piloten konnten das Flugzeug mit Schleudersitz und Fallschirm verlassen, wurden aber von turkmenischen Rebellen nach deren Angaben in der Luft tödlich getroffen.
© dpa

Wie groß ist das Risiko einer weiteren militärischen Eskalation, und was kann dagegen getan werden?

Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ist seit dem Ukraine-Krieg angespannt. Die baltischen Staaten, Schweden und Finnland berichteten über Verletzungen ihres Luftraums durch russische Militärmaschinen. Außerdem gab es deutlich mehr Flüge russischer Kampfflugzeuge im internationalen europäischen Luftraum. Zumindest einige von ihnen waren mit abgeschalteten Transpondern unterwegs, übermittelten also keine für die Sicherheit der zivilen Luftfahrt wichtigen Signale. Die „Gefahr unbeabsichtigter militärischer Eskalationsschritte“ müsse dringend reduziert werden, mahnte kürzlich der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger.

Mehrere Male seien die Nato und der Westen „nur haarscharf an militärischen Zwischenfällen vorbeigeschrammt“. Ischinger fordert daher eine Wiederbelebung des Nato-Russland-Rats. Dessen offizielle Treffen waren als Reaktion auf die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland im Jahr 2014 ausgesetzt worden.

Droht nun eine Ausweitung des Syrien-Konflikts?

Der Krieg in Syrien ist schon längst keine alleinige Angelegenheit von Assad und der syrischen Opposition mehr. Neben Russland, dem Iran, der Türkei, den USA und Frankreich mischen auch die arabischen Golf-Staaten sowie die libanesische Hisbollah-Miliz in dem Konflikt mit, um ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen. Dabei gibt es eine Frontstellung zwischen jenen, die wie die Türkei und die Golfstaaten die sunnitische Opposition unterstützen, und der Gruppe aus Assad, Russland sowie den schiitischen Kräften Iran und Hisbollah. Die USA und Frankreich kümmern sich um eine Bekämpfung des „Islamischen Staates“, greifen in den Konflikt zwischen Assad und den Rebellen aber nicht ein.

Eine an den Kalten Krieg erinnernde Ost-West-Konfrontation in Syrien nach dem Abschuss des russischen Flugzeuge würde an diesen Konstellationen nichts ändern, die Suche nach Frieden aber erschweren. Zudem könnte letztlich der IS von dem Streit profitieren.

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