Mario Monti, Italiens erstaunlicher Ministerpräsident: Der heilige Professor
Keine Skandale, keine Gerüchte, nicht einmal ein Temperamentsausbruch. In Roms Politik ist auf einmal alles ganz anders geworden. Premier Mario Monti, „Europäer des Jahres“, genießt in Italien so etwas wie Kultstatus. Wer ist dieser Wundermann?
Es gibt einen Auftritt von Mario Monti, der hat sich vielen Beobachtern ins Gedächtnis eingebrannt. Er spielte am 17. November vorigen Jahres, der Neue war noch neu, und der Gegensatz zum alten Regierungschef, zum fünf Tage vorher abgetretenen Silvio Berlusconi, fiel umso stärker ins Auge.
Da hatte Mario Monti also dem Senat sein Notprogramm für ein Italien am Abgrund vorgelegt, und dann hörte er sich an, was die Parlamentarier dazu meinten. Neun Stunden lang. Eine Wortmeldung nach der anderen. Kerzengerade saß er da, ohne sich anzulehnen; nicht einmal die Beine schlug er übereinander. Monti hörte zu, machte sich – ganz der Professor – Notizen in ein großes Schulheft.
Berlusconi, der das Parlament sowieso nie leiden konnte, hätte spätestens nach einer halben Stunde gegähnt. Dann hätte er Witzchen gerissen mit den anderen auf der Regierungsbank, er hätte Zettelchen an Parteifreunde, galante Briefchen an Freundinnen geschrieben, und nach höchstens einer Dreiviertelstunde – darin war er berechenbar – wäre er eingeschlafen.
Nichts dergleichen bei Monti. Ablenkung gönnte er sich nicht. Er lutschte nicht einmal ein Bonbon. Und als er sich um 17.40 Uhr – der Zeitpunkt ist genau festgehalten – endlich ein Glas Wasser reichen ließ, ging ein erleichtertes Raunen durch die Halle: Der Mann war also doch von Fleisch und Blut, irgendwie. Der „Rigor Monti“, den italienische Journalisten dem Regierungschef schon angedichtet haben, in sarkastischem Wortspiel die Grenzen zwischen Latein und Italienisch, zwischen Politik und Medizin überspringend, war also nicht von finaler Bedrohung: „Rigor Monti“ – das kann „Montis Strenge“ heißen; es war aber auch eine Anspielung auf den „rigor mortis“, die Totenstarre.
Drei Monate liegt das alles erst zurück; in diesem „rigoristischen“ Vierteljahr hat sich Italiens Politik verändert wie sonst in ganzen Legislaturperioden nicht. Mario Monti fühlt ein krankes Land und ein ansteckungsgefährdetes Europa auf den Schultern – und er hat eine Energie entfaltet, wie man sie dem 68-Jährigen nach seinen zuletzt vergleichsweise beschaulichen Jahren als Wirtschaftsprofessor und Präsident der Mailänder Elite-Universität „Bocconi“ nicht zugetraut hätte. „Vielleicht“, sagt einer aus Montis Umgebung, „hat er ja nur auf seine Stunde gewartet. Jetzt ist sie da. Er weiß das. Und jetzt macht er seine Arbeit nicht zu 99, sondern zu 100 Prozent.“
Dass Mario Monti keine Kompromisse mag, das hat er in seinen zehn Jahren als EU-Kommissar für den Binnenmarkt und für den Freien Wettbewerb bewiesen. „Gerade als Wettbewerbshüter“, sagt ein Experte aus Brüssel, „trittst du unweigerlich immer jemandem auf die Zehen.“ Monti hatte keine Angst vor großen Tieren – weder vor den Leuten von Microsoft, denen er wegen unlauterer Ausnutzung einer marktbeherrschenden Position 497,2 Millionen Euro Buße abknöpfte, oder vor General Electric und Honeywell, denen er die in den USA schon erlaubte Megafusion vermasselte. Und mit der deutschen Bundesregierung kabbelte sich Monti jahrelang, weil er den staatlich privilegierten Status der Landesbanken für unvereinbar hielt mit dem Prinzip des freien Wettbewerbs.
Der Sieg nach Punkten ging an Monti – er selbst würde sagen: an Europa. „Die Jahre in Brüssel“, sagte er einmal, „waren anstrengend, aber sie haben mir große Genugtuung bereitet.“ Und er fügte an: „Einmal, am Ende zermürbender Verhandlungen, als ich den Deutschen nicht geben konnte, was sie wollten, fragte mich Bundeskanzler Schröder: ,Sie haben bei Jesuiten studiert? Ja? Ach deshalb: Sie argumentieren, argumentieren und argumentieren, ohne je etwas zuzugestehen’.“
Die Anekdote mit den Jesuiten war eine der ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen Monti Einblick in seine persönliche Geschichte, in sein Privatleben zuließ. Als er noch seinen Hund hatte und die Zeit für jene langen Spaziergänge, die ihm heute so fehlen, ging das so weit, dass er Reportern nicht mal den Namen des Tieres verriet.
Gut, man kennt Montis biografische Daten, man weiß, dass er am 10. März 1943 in Varese zur Welt kam, in der nördlichen Lombardei, an der Grenze zur Schweiz, und der harte Akzent jener Gegend hat sich auch im Englischen und im Französischen erhalten, das der Professore so geschliffen spricht wie wenige italienische Politiker. Monti ist Sohn eines Bankdirektors, diskreter, arbeitsamer lombardischer Adel sozusagen, gebildet, höflich, von britischem Understatement fast, vom dazugehörigen Humor auch. Kein „Du“ in seiner Arbeitsumgebung. Keine Kumpelhaftigkeit.
Ansonsten beneiden Journalisten aus Brüssel einen nicht um den Aufgabe, ein Porträt Montis zu schreiben. „Für uns war er ein Mann ohne Eigenschaften“, sagt ein langjähriger EU-Kollege: „Monti hat gearbeitet, sachlich, verbindlich, ohne dass er irgendein Tamtam darum gemacht hätte. Er hat sich, auch wieder im Gegensatz zu anderen Kommissaren, nie an die Medien herangedrängt. Nähe zu Skandälchen? Niemals. Keine Gerüchte über ihn im Umlauf, keine Temperamentsausbrüche. Nichts.“
Die Ruhe, die Gelassenheit, mit denen Monti sein Land in den vergangenen drei Monaten durch die Krise steuerte, kam manchem in Rom schon fast gespenstisch vor. Aber es gibt langjährige Mitarbeiter Montis, die schwören, sie hätten ihn noch nie nervös oder gar wütend erlebt. „Dabei regt er sich andauernd auf, wenn die Sachen nicht so laufen, wie er es für optimal hält“, widerspricht ein Professor der Bocconi-Universität: „Nur würde er das niemals nach außen zeigen. Nie würde er mit der Faust auf den Tisch hauen. Man muss ihn schon sehr, sehr genau kennen, um zu sehen, wann es in seinem Inneren brodelt.“
Monti ist Perfektionist. Und wie geht er mit seinen Mitarbeitern um? „Geduldig, nun ja, würde ich nicht sagen“, meint eine Frau aus seiner Nähe: „Oder doch. Er hat viel Vertrauen in seine Leute. Er lässt sie arbeiten, er kontrolliert nicht andauernd. Wenn die Sache gut läuft, eben …“ Und der Mann von der Uni ergänzt, Monti habe es durch sein Vorbild immer schon geschafft, seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen zu motivieren: „Die schlagen Saltos rückwärts, um für ihn gute Arbeit zu machen.“
Wann der Vielarbeiter Monti überhaupt Pause macht, weiß nicht einmal seine Sprecherin zu sagen: „Weil er direkt im Palazzo Chigi wohnt“, also in jenem Amtssitz der italienischen Regierungschefs, den Berlusconi als unwirtlich verschmähte, „geht er auch noch nachts in sein Büro.“ Gleichzeitig scheint Monti überall zu sein: in Brüssel, in Paris, in Berlin, in Tripolis, im Parlament, im Fernsehen. Der Öffentlichkeitsscheue von einst drängt heute ins Licht der Scheinwerfer. „Einmal, nur einmal“, sagt eine Sprecherin, „als wir von London zurückgeflogen sind, hat er mir gesagt: ,Ich bin müde’.“
Was treibt Mario Monti an? Als bekannter, geachteter, in Staats-, EU- und Universitätskreisen weltweit bestens vernetzter Professor könnte er in Ruhe seinen Studienaufträgen nachgehen, weiterhin Aufsätze und Leitartikel schreiben, Interviews zur Weltkrise geben. Er könnte sich der Politik verweigern wie ein paar Mal schon, als italienische Regierungschefs wie Carlo Azeglio Ciampi oder Silvio Berlusconi ihn zum Minister machen wollten. Er könnte den Großvater geben für seine vier Enkel, für die er nun noch weniger Zeit hat, als er für seinen Sohn und seine Tochter hatte. Monti, der Familienmensch, der Salons und Partys nicht mag, der Tischreden immer nur widerwillig gehalten hat und lieber mit seiner Frau zu Abend isst, als dass er sich zu Arbeitsessen in Ministerkreisen trifft – warum wirft er nun sein Leben um? Warum lädt er sich die Herkulesarbeit auf die Schulter, Italien zu sanieren und damit – diesen Anspruch erhebt Monti durchaus – Europa als solches zu retten?
„Karriere hat ihn noch nie interessiert“, sagen Leute, die ihn kennen: „Monti ist sach- und ergebnisorientiert. Wenn er die Aufgabe jetzt übernommen hat, dann deshalb, weil er zutiefst davon überzeugt ist, sie zu schaffen.“ Viel Pflichtgefühl sei dabei, sagen sie. Nicht aber ein christliches Ethos, auch wenn Monti überzeugter Katholik und Kirchgänger ist; Glauben und Politik hält er bewusst getrennt. Eher ist es offenbar ein Ehrgefühl für Italien. Er will, sagt Monti selbst, „dass man von diesem Land wieder mit der Würde spricht, die ihm zusteht“.
Deshalb Mario Montis Fernsehauftritte mit Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, die sich noch vor vier Monaten hämisch zugrinsten, als sie nach den Reformfähigkeiten Italiens und nach ihrer Einschätzung des – damaligen – Regierungschefs gefragt wurden. Den heutigen überschüttet dasselbe Europa mit Lob. „Exzellente Arbeit“ mache Monti. Frankreich ernennt ihn zum „Europäer des Jahres“; in London reißen sich die Studenten um Karten für einen Gastvortrag des neues Starprofessors; OECD-Generalsekretär Miguel Angel Gurria spricht vom „richtigen Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort“. Und in der Berlusconi-Partei PDL, die auch immer nur den einen, ihren einen, auf den Schild gehoben hat, wird es den Ersten vor „so viel Heiligenverehrung“ schon schummrig.
„Monti geht zu viel ins Fernsehen“, meckern Italiens Parteiführer, die sich selbst um die ersten Plätze gebracht sehen. Und sie stellen fest, dass dieser langsam sprechende, in unprätentiöses Hellgrau oder Dunkelblau gewandete, eigentlich ganz fernseh-untaugliche „Nicht-Kommunikator“ im Lauf eines Abends sogar steigende Zuschauerzahlen verzeichnet, wenn er in professoraler Dürre die Lage Italiens und die daraus folgende Pflicht zu Opfern erläutert. Und Monti, selbst davon überrascht, überlegt im britischen „Economist“, ob seine Landsleute nicht „ein verborgenes Bedürfnis nach einer endlich langweiligen Regierung“ gehabt hätten, „die versucht, ihnen – ungeschminkt vom Politik-Slang – die Wahrheit zu sagen“.
Und so verspricht der Professor nichts. „Er scheut sich geradezu vor Versprechungen“, sagt sein Kollege von der Bocconi-Uni, „weil er immer befürchtet, sie nicht einhalten zu können.“ Monti erklärt und erklärt und erklärt. Und gleichzeitig tut er etwas, das alle Politiker in Italien versäumt haben: Er setzt seinem Land ein Ziel. Gewiss, sagt er, seit seinem Amtsantritt und den belastenden Haushaltsbeschlüssen sei Italiens Zinslast leichter geworden, aber noch reiche es nicht – und vor allem: Wenn die Bürger noch auf längere Zeit nichts davon in ihrem Geldbeutel verspürten, so sollten sie doch wissen, dass das alles notwendig, geradezu unabdingbar sei, „den jungen Leuten und den noch nicht Geborenen ein lebenswertes Italien zu sichern“.
Aber warum ist Monti erst jetzt in die Politik gegangen? „Weil sich die Verhältnisse grundlegend geändert haben“, sagen die, die ihn kennen. Einer Partei wollte sich der Professor niemals zurechnen, im tagespolitischen Hickhack sich nicht verschleißen lassen – das unterscheidet ihn vom gescheiterten „Linken“ Romano Prodi. Die Einladung des Staatspräsidenten allerdings zur Führung einer überparteilichen Expertenregierung, die ließ sich Monti nicht entgehen: Nur sie bot ihm die Chance, jene Reformen durchzusetzen, die im ideologischen Streit oder beim Schielen auf eine Wiederwahl unmöglich gewesen wären.
Wobei die Parlamentsparteien – dieselben wie eh und je – zu ihrem Missvergnügen merken, dass ihnen der angebliche „Technokrat“ im politischen Management womöglich überlegen ist. Monti, so geht inzwischen auch den Leitartiklern auf, weiß sehr genau, wie er Belastungen und Erleichterungen dosieren muss: Auf höhere Steuern folgte ein schlagartiger Rückbau der Bürokratie – und die Italiener, die chronisch verärgert waren über eine öffentliche Verwaltung, die sie nötigt, ganze Vormittage zum Erhalt einer einzigen Geburts- oder Heiratsurkunde zu opfern, reagierten unverzüglich mit um fünf Prozentpunkte höheren Beliebtheitswerten.
Wenn schon „Technokrat“, dann ist Monti das in einem anderen Sinne geworden: Er, der für Hobbys keine Zeit hat, hat neuerdings das Surfen im Internet entdeckt. Politische Diskussionsforen schaut er sich an. Dort, wo es natürlich auch um Reaktionen auf seine Politik geht, sei er überraschenderweise stets bestens informiert und auf dem neuesten Stand, heißt es im Palazzo Chigi.
Montis sprichwörtliche Bescheidenheit übrigens hat durchaus ihre Würze. Als einem Journalisten das Wort „Professore“ rausrutschte und er sich dafür entschuldigte, weil er eigentlich den „Herrn Ministerpräsidenten“ ansprechen sollte, meinte Monti geradezu süffisant: „Sie können ruhig beim Professor bleiben. Wissen Sie: Ministerpräsidenten kommen und gehen, Professoren bleiben.“
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