NSU-Untersuchungsausschuss: Der Dämon des Rassismus
Am Ende sind es 1357 Seiten. Auf ihnen festgehalten ist das Versagen deutscher Behörden. Damit beendet der Untersuchungsausschuss zur NSU-Affäre seine Arbeit. Selten hat ein Gremium des Bundestages so gut funktioniert – aus Scham.
Nur Hartfrid Wolff tanzt etwas aus der Reihe. Dem Liberalen ist das zu viel Konsens auf dem Podium der Bundespressekonferenz. „Es bleiben mehr Fragen offen, als beantwortet wurden“, sagt er.
Seine Mitstreiter lächeln gönnerhaft oder schauen etwas beschämt nach unten. Sie kennen das schon. Aber Wolff ist noch nicht fertig. Er listet sechs Punkte auf, die ihm und seiner Partei in anderthalb Jahren Arbeit des Untersuchungsausschusses zu kurz gekommen sind. Am Ende seiner Einlassung fordert er, auch in der nächsten Legislaturperiode einen Untersuchungsausschuss zur Verbrechensserie des rechten Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) einzusetzen.
Damit steht Hartfrid Wolff, Jahrgang 1971, weitgehend allein. Vier Wochen vor der Bundestagswahl sind solche kleinen parteipolitischen Positionskämpfe wohl nicht mehr zu vermeiden. Aber sie sind die Ausnahme. „Wir haben Tausende von Akten gelesen, unseren Untersuchungsauftrag haben wir erfüllt“, sagt Eva Högl, die SPD-Obfrau.
Dabei hatte es am Anfang geheißen, das schafft ihr nicht. Die Fallhöhe sei einfach zu groß, auch der moralische Druck. Ein Scheitern schien vorprogrammiert. Zu monströs ist der Fall. Zehn Morde in sieben Jahren. Eine Polizistin sowie acht Menschen mit türkischen und einer mit griechischen Wurzeln waren regelrecht hingerichtet worden. Hinzu kommen Nagelbombenanschläge, Banküberfälle und zahlreiche traumatisierte Hinterbliebene. Wie sollte das bewältigt werden in eineinhalb Jahren? 48 Untersuchungsausschüsse hatte es bis dahin in der Geschichte des Deutschen Bundestages gegeben. Meist mussten die sich mit finanziellen Belangen befassen, mit behördlichem Fehlverhalten oder dem Versagen politisch Verantwortlicher. Auch menschliche Schicksale wurden dabei oft berührt, aber nie in dieser Form und nicht annähernd so zahlreich.
Eva Högl hat bei jeder Sitzung die Fotos der NSU-Opfer vor sich liegen gehabt. „Meine Art, mir das immer wieder zu vergegenwärtigen“, sagt sie.
Dieser Untersuchungsausschuss war nicht nur der erste, der einstimmig vom Plenum eingesetzt wurde, sondern auch derjenige, der diese Einstimmigkeit, den Konsens, das gemeinsame Ziel bis zum letzten Tag durchgehalten hat. Auch Wolff hat das.
Der Ausschuss hat auch nicht vor der Komplexität des Falles kapituliert. Am 26. Januar 2012 wurde er eingesetzt und seitdem haben die elf Ausschussmitglieder 389 Beweisbeschlüsse gefasst – alle einstimmig – und sich durch ein wildes Geflecht an Verantwortlichkeiten und Fehlverhalten auf Bundes- und Landesebene, in der Justiz und bei Ermittlungsbehörden gekämpft. Stundenlanges Aktenstudium hat jedes Mitglied hinter sich – im Büro, zu Hause oder in der Außenstelle des Verfassungsschutzes in Berlin-Treptow. Nur dort nämlich gestattete man ihnen Einsicht in jene Dokumente zu nehmen, die als geheim eingestuft sind. Stifte für Mitschriften waren nicht erlaubt, auch keine Handys. Hunderte Zeugen haben die Abgeordneten vernommen und dabei die ganze Bandbreite an Reaktionen, von Ausflüchten und Eingeständnissen, erlebt. Ermittlungsbeamte, die den Tränen nahe waren und die bis heute mit dem Fall, dem eigenen Versagen, zu kämpfen haben.
Mit Skurrilitäten mussten sie sich auch auseinandersetzen. In Bayern hatten sich Polizisten als Dönerverkäufer verkleidet, um den vermeintlichen Tätern eine Falle zu stellen. Und in Köln vertraute man auf Hellseher. Als es im Juni 2012 um den vom NSU ermordeten Gemüsehändler Süleyman Tasköprü in Hamburg ging, wurde ein besonders kurioser Aufklärungsansatz offenbar. Eine Sonderkommission hatte 2001 die Ermittlungen übernommen. Deren Beamte verblüfften die Abgeordneten nun mit der Tatsache, einen Geisterbeschwörer zu Rate gezogen zu haben. So verzweifelt und orientierungslos waren sie in dieser Sache. Der iranische „Metaphysiker“ war über einen Zeugen an die Polizei herangetreten und hatte seine Dienste angeboten. Er trat als Medium dann für 15 Minuten „in Kontakt“ mit dem Opfer und berichtete danach, dass dieses den Täter als „dunkelhäutig und jung“ beschrieben habe.
Ergebnis? Die Ermittler hatten weiter nichts als eine Spur ins Jenseits.
Keine parteipolitischen Spiele
Aber die Parlamentarier mussten sich auch mit harten Hunden auseinandersetzen wie Klaus-Dieter Fritsche. Der war zur Zeit der Mordserie Vizepräsident des Verfassungsschutzes und ist heute Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Von Bedauern war in Fritsches Darlegung keine Rede, dafür stellte er den Ausschuss als Sicherheitsrisiko dar, weil brisante Dokumente öffentlich gemacht würden und die Arbeit der Sicherheitsdienste dem Spott preisgegeben werde. Zwischenfragen ließ Fritsche nicht zu.
„Es gibt Grenzen dessen, was man hier hinnehmen muss“, sagte daraufhin der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy und unterbrach die Sitzung.
Der folgende kleine Aufruhr war nichts im Vergleich mit dem, was die unauffindbaren oder gedankenlos-planmäßig geschredderten Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz auslösten. So waren kurz nach dem Auffliegen des Terrortrios im November 2011 wichtige Unterlagen, die möglicherweise einen Bezug zu den NSU-Taten hatten, vernichtet worden. Der damalige Behördenleiter Heinz Fromm wusste davon nichts und trat zurück. Bei seiner Befragung im Ausschuss im Juli 2012 sagte er: „Ich fühle mich hinters Licht geführt.“
Es waren auch solche Offenbarungen von Spitzenbeamten, mit denen der Ausschuss viel zur Aufklärung der NSU-Terrorserie beigetragen hat, ohne dass alle Fragen beantwortet werden konnten. Die Parlamentarier haben einer Versuchung widerstanden und selbst im Wahljahr keine parteipolitischen Spiele ausgetragen. Aber woher kam diese moralische Disziplin?
Das Bild Deutschlands in der Welt war durch die NSU-Morde beschädigt. Und mit jeder Ermittlungspanne, die der Ausschuss aufdeckte verdunkelte sich das Bild. Das ließ die britische BBC fragen, „ob man mehr als nur Inkompetenz dafür verantwortlich machen muss“, nämlich eine „gewisse Sympathie der Behörden mit der äußersten Rechten“. Der Vorwurf lag nahe, auch der Untersuchungsausschuss selbst sollte ihm nachgehen. Hinweise haben die Abgeordneten dafür nicht gefunden. Und doch traf allein der Verdacht einen wunden Punkt: Die Deutschen hatten es wieder mal nicht geschafft, den Dämon des Rassismus zu bändigen. An den Abgeordneten war es, nicht nur aufzuklären, sondern Vertrauen wiederherzustellen, die Schamesröte etwas zu vertreiben. Der Untersuchungsausschuss war einmal tatsächlich das, was er eigentlich immer sein sollte: ein parlamentarisches Gremium, in dem die Legislative die Exekutive kontrolliert und nicht die Opposition die Regierungsfraktion.
Am Donnerstag haben sie sich nun zum letzten Mal getroffen. Gemeinsam haben sie einen 1357 Seiten dicken Abschlussbericht vorgelegt, in dem einige Passagen hart umkämpft waren, bevor alle damit leben konnten. Aber es ist ein Konsensbeschluss und den haben sie Bundestagspräsident Norbert Lammert überreicht. Der lobte die Arbeit des Ausschusses als Beispiel „hoher politischer Kultur und parlamentarischer Kompetenz“.
Anschließend machen sie das, was sie nach jeder Sitzung gemacht haben: sich gemeinsam, nebeneinandersitzend, präsentieren. Diesmal aber nicht vor ihrem Sitzungssaal im Paul-Löbe-Haus, wo sie nächtelang tagten, sondern vor der Bundespressekonferenz. Und ihr Fazit ist einhellig: Die Sicherheitsbehörden, aber auch die Politik und auch die Gesellschaft insgesamt haben versagt. Ein „historisch beispielloses Desaster“, nennt Edathy die Versäumnisse. Der Ausschuss, darin sind sich alle einig, ist eine Erfolgsgeschichte, aber eine, die noch nicht zu Ende erzählt ist. Denn alle treibt an diesem Donnerstag die Sorge um, dass ihre 47 gemeinsamen Forderungen nach Reformen der Sicherheitsbehörden, der Polizeiausbildung und einer besseren Prävention einfach ad acta gelegt werden. Schließlich wissen sie selbst, wie aufreibend Eingriffe in die innere Struktur von Behörden sein können und wie viel schwieriger es ist, Einstellungen zu ändern. Außerdem weiß niemand, ob der große parteipolitische Konsens diesen Wahlkampf übersteht.
Vor allem eine sorgt sich in diesem Moment darum: Petra Pau. Die Obfrau der Linken ist direkt gewählte Abgeordnete aus Marzahn-Hellersdorf, und sie erlebt zurzeit im eigenen Wahlkreis, wie präsent das Thema Rechtsextremismus noch immer ist. Als sie auf die Diskussionen um ein Flüchtlingsheim in Hellersdorf angesprochen wird, rutscht sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. „Das Problem Rassismus erleben wir nicht nur in Hellersdorf, sondern fast in der gesamten Stadt“, sagt sie. Beschämend seien die Proteste gegen das Flüchtlingsheim. Und dass es notwendig sei, „gemeinsam rassistischen Auswüchsen in Berlin entgegenzutreten“.
Vor allem bei diesem Satz schaut sie immer wieder nach links und rechts zu ihren Kollegen, als wolle sie sich vergewissern, dass auch niemand ausschert. Wolfgang Wieland, Obmann der Grünen, springt ihr bei. Er warnt davor, das Thema im Wahlkampf zu instrumentalisieren. „Noch hält der Konsens“, sagt er, beinahe, als befürchte er das Gegenteil.
Beide, Wieland und Pau, begleitet das Thema Rechtsextremismus schon ihr gesamtes politisches Leben. Für sie ist der Ausschuss eine Herzensangelegenheit.
Und dem Vorsitzenden? Sebastian Edathy, dessen Vater indische Wurzeln hat, musste selbst immer wieder mit rassistischen Schikanen leben. Er weiß, wie es ist, als Ausländer diskriminiert zu werden, und das, obwohl er selbst keiner ist. Für ihn ist der Ausschuss aber nicht nur deshalb eine wichtige Tätigkeit. Sie ist auch für seine politische Laufbahn wichtig. Schließlich galt Edathy mal als einer der wichtigsten Innenpolitiker der Sozialdemokraten. Vorsitzender des Bundestags-Innenausschusses war er von 2005 bis 2009. Doch sein Stern drohte zu sinken. Andere wie Thomas Oppermann oder Michael Hartmann zogen an ihm vorbei.
Nun wird Edathy für seine Arbeit als Ausschussvorsitzendem allseits Respekt gezollt. Er präsentierte sich gut im Stoff und hart in der Befragung. Auch die anderen Mitglieder haben an Statur gewonnen. Neben Edathy waren Clemens Binninger, Obmann der Union, und Eva Högl, die zentralen Figuren des Ausschusses. Minister wurden da vielleicht nicht geboren, aber Staatssekretäre womöglich? Für andere, wie den Grünen Wieland, ist es der würdige Abschluss einer Bundestagskarriere.
Am Ende gehen die Ausschussmitglieder an diesem Donnerstag auseinander. In eine andere Welt. In den Wahlkampf.