Europa und Großbritannien: Der Brexit könnte ein Neuanfang sein
Das Ausscheiden der Briten aus der EU wäre mehr Chance als Desaster. Europa braucht tiefgreifende Reformen. Ein Domino-Effekt wäre unwahrscheinlich. Ein Gastkommentar.
Zum Beginn dieser europäischen Schicksalswoche wünschen sich die weitaus meisten Deutschen einen Verbleib des Vereinigten Königreiches in der EU. Zeitungen und Schriftstellermanifeste appellieren an die Briten, bitte nicht zu gehen. Beschworen werden die britischen Beiträge zur europäischen Kultur, von der Magna Charta bis zum Minirock, die Weltkriege, die Verteidigung Berlins. Es sind emotionale Signale von Dankbarkeit und wahrer Freundschaft.
Nun wäre ich der Letzte, Völkerfreundschaft gering zu schätzen. Indessen ist die zweite, mindestens ebenso große Gefahr für die Union derzeit die Erosion ihres Rückhalts in den Völkern. Ohne tiefgreifende Reformen werden wir, von argumentativ unzugänglichen nationalistischen Rändern ganz abgesehen, nicht einmal die Mitte unserer Gesellschaften vom Sinn des gemeinsamen Europa überzeugen. Schaffen wir das, mit den Briten?
Wohlstand alleine hält die Bürger offensichtlich nicht mehr bei der europäischen Stange, nicht auf den Britischen Inseln und nicht auf dem Kontinent. Schade, dass so viele die europäischen Grundlagen ihres Wohlergehens nicht erkennen. Aber so ist es.
In einer neuen Allianz für Europa könnten wir uns auf Reformen für folgende Werte und Ziele verständigen: Mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Absicherung gegen systemische Risiken der Finanzmärkte, effektiver Daten- und Verbraucherschutz, demokratieverträgliche Welthandelsbedingungen, ethische Grenzen für Genmanipulationen, nachhaltige Energieversorgung ohne die immensen Risiken und Langzeitkosten der Atomindustrie, menschliche Solidarität im Inneren wie Äußeren, eine gemeinsame Asylpolitik.
In diesen Fragen hat Großbritannien über viele Jahre Fortschritte verhindert und EU-Politiken in seinem Sinn beeinflusst. Die von London geforderten Straffungen sind notwendig, aber eher technischer Natur gegenüber den inhaltlichen Reformen, die für ein glaubwürdigeres Bürgereuropa essenziell, aber mit London nicht möglich sind.
Ein fragwürdiger Ratgeber in Sachen Währungsstabilität
London als natürlicher Verbündeter Berlins? Keine Regierung hat EU-Initiativen und deutsche Vorschläge öfter blockiert als eben die Londoner. Mit einem Haushaltsdefizit und einer Staatsverschuldung weit über die Maastrichter Obergrenzen hinaus ist die britische Regierung ein fragwürdiger Ratgeber in Sachen Währungsstabilität.
London als wichtiger Partner der europäischen Sicherheit? Tatsache ist, erst ohne London werden wir eine effektive europäische Verteidigung aufbauen können. Sie mag dann gerne Fundament für eine privilegierte Partnerschaft mit Großbritannien sein, für eine Nato mit erweiterten, zivilen Stabilisierungsaufgaben, für neue Bündnisformate.
Droht mit einem Brexit ein Domino-Effekt? Nicht ernsthaft mit einem Austritt liebäugeln werden EU-skeptische Regierungen wie in Warschau und Budapest. Denn sie sind Nettoempfänger der ersten Reihe. Unter den großen Nettozahlern werden die Niederländer als Nation von Kaufleuten und Transporteuren die europäischen Grundlagen ihres Wohlstands nicht aufs Spiel setzen. Wahrscheinlicher werden die Folgen eines Brexit für unsichere Kantonisten ein Schreckschuss sein.
Das für Europa beste Referendum wäre ein klares Bekenntnis zur britischen Vollmitgliedschaft. Ich würde mein Probrexitplädoyer sofort aufgeben, die Briten als endlich engagierte Europäer umarmen! So wird’s leider nicht kommen. Das schlimmste Ergebnis wäre ein knappes Verbleibsvotum, mit einer Lähmung und Aushöhlung der EU noch auf viele Jahre. Der derzeit wahrscheinliche Brexit wird hingegen eine wichtige Chance sein, für einen europäischen Neuanfang.
Wir brauchen ein Europa der Demokratie und für diese Demokratie ein Europa der Freundschaft. Die alten Griechen lehren es. Und die Bürger wollen es so. Es soll dann auch ein Europa wahrer Freundschaft mit den Briten werden!
- Der Autor hat 35 Jahre lang für den deutschen Auswärtigen Dienst gearbeitet, zuletzt als Gesandter in Athen sowie beim Heiligen Stuhl. Er ist Vorsitzender des Vereins Wir-in-Europa (www.wir-in-europa.org). Der Beitrag wurde vor dem Mord an Jo Cox geschrieben.
Guy Féaux de la Croix