EU und der Lissabon-Vertrag: Der Brexit entmachtet Deutschland
Bisher hatten Nordländer gegenüber Südländern in der EU eine Sperrminorität. Der Brexit wird das ändern. Die Führungsnation Deutschland könnte entmachtet werden. Ein Kommentar.
Welche Zukunft hat ein Staatenbündnis, dessen Mitglieder in wachsender Zahl an der Sinnhaftigkeit der ganzen Allianz zweifeln? Was bringt Deutschland eine Europäische Union, in der die Bundesrepublik von anderen Ländern als egozentrisch, herzlos und bar jeder Rücksicht empfunden oder zumindest dargestellt wird?
Der Chef der – linken – portugiesischen Regierungspartei nennt den Bundesfinanzminister einen Brandstifter, der sich als Feuerwehrmann präsentiere. Wolfgang Schäuble hatte zuvor die Abkehr der Regierung in Lissabon vom bisherigen Sparkurs kritisiert. Der italienische Ministerpräsident weist Ermahnungen, seine Regierung halte die europäische Budgetrichtlinien nicht ein, unter Hinweis auf die nötigen staatlichen Hilfen nach der verheerenden Erdbeben in Mittelitalien empört zurück.
Die griechische Innenpolitik wird seit Monaten, ja, seit Jahren, von dem Grundtenor der geschürten Antipathien gegen Deutschland dominiert. Und auch wenn hinter allen Ermahnungen zur soliden Haushaltsführung entweder die Kommission in Brüssel steht oder der Euro-Rettungsfonds: Das Aufbegehren macht sich immer wieder an Deutschland fest, an dem Deutschland wohlgemerkt, das vor einen Dreivierteljahrhundert den Kontinent verwüstete.
Das sei nun einmal das Schicksal von Führungsnationen, dass sie von jenen verteufelt würden, die vor allem wirtschaftlich, politisch oder militärisch schwächer sind, heißt es, und hingewiesen wird dann auf das Schreckbild des „ugly American“, auf Uncle Sam, der mit der Karotte in der einen und der Peitsche in der anderen Hand je nach Situation die Staaten vor allem Mittel- und Südamerikas locke oder strafe.
Aber dieses Bild ist schief, denn die Vereinigten Staaten brachten nicht Hitler hervor, sondern bekämpften das von ihm entfesselte Horrorregime bis zu dessen Vernichtung. Nein, Deutschland muss seine Rolle ganz alleine in der Europäischen Union definieren, muss andere überzeugen, und die deutsche Politik darf nicht vergessen, dass unsere immer noch weitgehend positive Sicht der Europäischen Union nicht mehr der Mehrheitsmeinung entspricht.
Die Südländer können ihre laxeren Vorstellungen durchsetzen
Das liegt vor allem an den Folgen der Weltwirtschafts- und Währungskrise der Jahre 2008 und 2009, die für die Staaten Südeuropas verheerend waren. Eine Studie der Ebert-Stiftung, im Frühjahr durchgeführt vom Berliner Think Tank „Policy Maters“, weist nach, dass sechs von acht einbezogenen Staaten der EU inzwischen in dem Bündnis mehr Nach- als Vorteile sehen: Frankreich, Slowenien, die Niederlande, Italien, Schweden und Tschechien teilen diese negative Sicht, und in Spanien, Italien und Frankreich glauben mehr als drei Viertel der repräsentativ Befragten, dass sie ihre Probleme besser alleine als in der Union lösen könnten.
Dahinter steckt die Auffassung, die für Deutschland aufgrund seiner historischen Erfahrungen relevanten Wirtschaftskriterien wie Währungsstabilität nützten am Ende nur der stärksten Industrienation des Kontinentes, deren Exporterfolge ja nicht nur von der Qualität der Produkte, sondern auch von der starken Währung abhingen. Für die Staaten vor allem Südeuropas sind das weniger relevante Kriterien. Sie sind vor der Einführung des Euro mit ihren weichen Währungen ganz gut klar gekommen. Und seit dem Start der Gemeinschaftswährung profitierten sie zwar von der Festigkeit des Euro, etwa durch Verbilligung der internationalen Kredite – aber den Preis der wirtschaftlichen Reformen mussten und wollten sie nicht zahlen.
Für Deutschland und andere marktwirtschaftlich orientierte Staaten Nord- und Mitteleuropas wird sich dieser latente Konflikt mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU gefährlich verschärfen. Nach dem Vertrag von Lissabon werden ab 2017 Beschlüsse in der Europäischen Union mit der so genannten doppelten Mehrheit gefasst – 55 Prozent der jetzt noch 28 Mitgliedsländer müssen zustimmen, das sind 15, und 65 Prozent der Bevölkerung. Im Umkehrschluss garantieren somit Staaten, die 36 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentierten, so etwas wie eine Sperrklausel. Nach dem Ausscheiden Großbritanniens (64 Millionen Einwohner) wird Deutschland diese Quote mit seinen traditionellen Partnern nie mehr erreichen.
Das heißt: Wird diese Quotierung des Lissabon-Vertrages nicht revidiert, muss sich Deutschland künftig den laxeren wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Mehrheit unterordnen. Die Führungsnation wäre ganz legal entmachtet. Den Schaden aber hätten alle.