Nach der Wahl in Großbritannien: Der alte Sozialist führt Labour in die Zukunft
Jeremy Corbyn wirkte nach dem Brexit-Votum angeschlagen, seine Partei zweifelte an ihm. Doch jetzt hat Labour wieder Erfolg - Corbyn hat sich zurück in die Herzen der jungen Briten gekämpft.
Als irgendwann feststand, dass Jeremy Corbyns Partei rund 30 Sitze dazugewonnen hatte, wirkten auch viele der Labour-Politiker im Studio perplex. Dabei hatte sich in Umfragen im Vorfeld eigentlich abgezeichnet, dass es knapp werden würde für die Premierministerin Theresa May. In den Wochen vor der Wahl hatte Labour seinen Rückstand von fast 20 auf nur sieben Prozent verringern können. Allein, an den Erfolg wirklich glauben wollte keiner so richtig. In Corbyns Partei rechnete man allen Vorzeichen zum Trotz sogar mit dem Schlimmsten. Noch am Abend vor der Wahl hieß es aus moderaten Kreisen der Labourpartei, man bereite sich auf Verluste von bis zu 50 Mandaten vor. Jeremy Corbyn als Anführer einer erfolgreichen, eindeutig linken Labourpartei, der alte Sozialist als Wegbereiter für die Zukunft der britischen Sozialdemokratie – das konnten sich zu diesem Zeitpunkt nur wenige in seiner Partei wirklich vorstellen. Und doch ist es so gekommen.
Labour hat vor allem junge Wähler für sich aktivieren können, das wurde schon während der Auszählung der Wahlkreise in der Nacht zum Freitag klar. „Diese Angelegenheit mit den Jungen ist wirklich interessant“, kommentierte David Dimbleby, Moderator bei „BBC One“. Mit „der Angelegenheit“ meinte er die Tatsache, dass an diesem Tag erstaunlich viele junge Menschen zur Wahl gegangen waren – Schätzungen am Freitag gingen von 72 Prozent Wahlbeteiligung bei den 18- bis 24-Jährigen aus. Was noch über der allgemeinen Wahlbeteiligung liegt, die mit fast 70 Prozent die höchste seit einem Vierteljahrhundert war.
Die politische Orientierung hängt in Großbritannien stark vom Alter ab. Junge wählen eher progressiv, Alte die Tories – und die jungen Briten waren in den vergangenen Jahren bei Wahlen vor allem durch ihre Abwesenheit aufgefallen. Nur 43 Prozent der 18- bis 24-Jährigen waren bei den letzten Unterhauswahlen im Jahr 2015 zu Wahl gegangen, auch beim Brexit-Referendum waren es nur 64 Prozent – im Gegensatz zu mehr als 80 Prozent bei den über 55-Jährigen. Politikverdrossenheit unter jungen Menschen hat Tradition in Großbritannien und ohne die, das war allen Beteiligten klar, würde Labour haushoch verlieren.
Labour kämpfte im Wahlkampf vor allem um die jungen Wähler
Dass aber die Jungen, anders als zuvor, diesmal mitreden wollen, zeichnete sich schon länger ab. Mehr denn je wurde in den sozialen Medien Politik diskutiert und für den Urnengang geworben – meistens verbunden mit der Aufforderung, Labour anzukreuzen. Stars wie Lily Allen und Billy Bragg machten sich für Jeremy Corbyn und seinen Kampf gegen die Sozialkürzungen der Tories stark. Unter dem Label „Grime4Corbyn“ wurden in London Undergroundkonzerte abgehalten, zu denen nur eingeladen wurde, wer sich zuvor zum Wählen registriert hatte. Das Lied „Liar, Liar“ einer ansonsten relativ unbekannten Ska-Band, das Premierministerin Theresa May kritisiert, schaffte es weniger als eine Woche vor der Wahl auf Platz vier der britischen Single-Charts.
Jeremy Corbyn wusste diese Welle der Zustimmung für sich zu nutzen. Immer wieder traf er sich während des Wahlkampfs vor allem mit jungen Menschen, den Londoner Rapper Akala lud er zum Brunch ein und diskutierte mit ihm über Politikverdrossenheit. Die Labourpartei versprach auch die Abschaffung der Studiengebühren. Mit mehr gefördertem Wohnraum und Mietpreisbremsen würde sie vor allem jungen Mietern helfen, schrieb sie in ihr über hundert Seiten langes Wahlprogramm.
Der britische Politikwissenschaftler Matt Henn von der Nottingham Trent University sieht in den Stimmen der Jungen für Corbyn die Frustration über die Politik der letzten Jahre. „Junge Menschen haben sich jahrelang von Politikern ignoriert gefühlt. Sie tragen den Großteil der Sparmaßnahmen, die zu Sozialkürzungen und immer größerer Unsicherheit auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt geführt haben. Der Brexit hat diese Wut nur verstärkt“, kommentiert er das Ergebnis der Wahl am Donnerstag. Und er geht sogar so weit, das Ergebnis als Zeitenwende zu bezeichnen: Man werde sich an diese Wahl als das Ereignis erinnern, mit dem junge Menschen ihre Rückkehr in die Politik verkündet haben.
Jeremy Corbyn jedenfalls verbucht die Wahl als Sieg, auch wenn sie ihn am Ende wahrscheinlich nicht zum Premier machen wird: „Die Politik hat sich verändert, sie lässt sich nicht wieder in die Box sperren, in der sie früher war“, sagte er am Tag nach der Wahl.