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Jeder hat sein persönliches Schicksal, seine Heimat, seine Familientradition.
© dpa/Michael Reichel

Höchste Zeit für einen neuen Impuls: Der 9. November sollte zum „Tag der Herkunft“ werden

Ossis, Wessis und Migranten machen alle zusammen Deutschland aus. Der 9. 11. sollte der Tag sein, an dem jeder seine besondere Identität zeigt. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

Der 9. November ist ein überladener Tag. Novemberrevolution und Sturz der Monarchie, Pogromnacht, Mauerfall. Das sind sehr verschiedene Ereignisse, die ein angemessenes Gedenken fast unmöglich machen.

Welches Gefühl soll das Datum prägen – Stolz, Trauer, Freude, Scham? Aus dieser Verlegenheit hilft zumeist die Frage, ob der 9. November ein rundes Jubiläum ist. Im vergangenen Jahr jährte sich die Ausrufung der Republik zum hundertsten, die Reichspogromnacht zum achtzigsten Mal. In diesem Jahr stehen dreißig Jahre Mauerfall im Vordergrund.

Zu erwarten sind folglich viele fundierte Abhandlungen über den Stand der Einheit, die deutsch-deutschen Befindlichkeiten, die Fehler im Einigungsprozess. Nostalgische Erinnerungen an die anarchische Zeit zwischen Grenzöffnung und Einheitsvollzug werden geweckt, an Michail Gorbatschow, Ronald Reagan, die mutigen Revolutionäre, das Begrüßungsgeld, die Währungsunion, den Wandel von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“. Zum Schluss spielen die „Scorpions“ dann wieder „Wind Of Change“, Luftballons steigen auf, Kerzen brennen. So weit, so deutsch.

Keine Herkunftserzählungen erster und zweiter Klasse

Höchste Zeit für einen kleinen Impuls: Der 9. November könnte zum „Tag der Herkunft“ erklärt werden. Am „Tag der Herkunft“ zeigt jeder, woher sie oder er kommt und was sie oder ihn prägt. Das kann eine Flagge sein, eine Fahne oder das Wappen des Bundeslandes, der Name des Heimatdorfes oder ein religiöses Symbol, klein oder groß, als Schal oder Sticker.

An diesem Tag der offenen Grenzen sind auch der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Das Tragen mehrerer Identitätsmerkmale ist durchaus möglich.

Wie hieß es doch gleich nach dem Mauerfall? Erzählt euch eure Geschichten! Das ist bis heute richtig, aber kommt bitte heraus aus dem deutsch-deutschen Sud! Mehr als zwanzig Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, das ist jede vierte Person, Tendenz steigend. Das heißt, es gibt längst mehr Menschen mit Migrationshintergrund, als es zur Zeit des Mauerfalls DDR-Bürger gab.

Was es aber nicht geben sollte, sind Herkunftserzählungen erster und zweiter Klasse. Jeder hat sein persönliches Schicksal, seine Heimat, seine Familientradition, die oft nicht deckungsgleich ist mit der Geschichte des Landes. Bürgerkriege, Hungersnöte und innereuropäische Chancenungleichheiten werden die Migrationsdynamik noch beschleunigen. Ossis, Wessis und Migranten konstituieren gemeinsam Deutschland. Sie alle sollten neugierig aufeinander sein.

Ich finde, daß die Identität als Ossi, Wessi oder was auch immer am 9. November eben nicht so wichtig sein sollte. Einmal gerade nicht.

schreibt NutzerIn Zeppi234

Am „Tag der Herkunft“ wird das sichtbar. Die Frau aus Suhl begegnet dem Mann aus Eritrea, der Mann aus Schleswig-Holstein sieht, dass sein Nachbar im Herzen bayerisch ist, die Arbeitskollegin mit der schwarz-rot-goldenen Fahne erfährt, dass die Eltern ihrer Vorgesetzten aus Polen stammen.

Ein Merkmal seiner Herkunft zu tragen, zeugt von Selbstbewusstsein. Manchmal braucht es dafür Mut. Einmal im Jahr aus der Anonymität auszubrechen, das Versteck der eigenen Identität zu verlassen, kann befreiend und aufregend zugleich sein.

Vielfalt stärkt das Bewusstsein von Einheit

Am 17. September 1787 wurde die amerikanische Verfassung unterzeichnet. Der „constitution day“ ist ein Feiertag und wird auch „citizenship day“ genannt, weil die Neubürger an diesem Tag zu Staatsbürgern werden. In einer öffentlichen Zeremonie wird ihr Name aufgerufen sowie ihr Herkunftsland, sie heben die rechte Hand und legen den Eid auf die Verfassung ab.

In den USA kommt jeder von irgendwoher. Das wird, abgesehen von Donald Trump und einigen seiner Anhänger, überwiegend als Bereicherung empfunden.

In Südafrika ist der 24. September seit 1995 ein nationaler Feiertag. Er heißt „Heritage Day“, weil an ihm das kulturelle Erbe der Regenbogennation in all seinen Facetten gefeiert und die unterschiedlichen Traditionen geehrt werden. Die Vielfalt soll das Bewusstsein der Einheit stärken.

„Wo wir anfangen, ist niemals der Anfang“

Der Philosoph Odo Marquard veröffentlichte im Jahre 2003 einen Essay-Band mit dem Titel „Zukunft braucht Herkunft“. In einem Interview mit dem „Spiegel“ erklärte er den Grundgedanken darin so: „Das uns prägende Vergangene ist immer schon da – Familie, Sprache, Institutionen, Religion, Staat, Feste, Geburt, Todeserwartung –, wir entkommen ihm nicht. Wo wir anfangen, ist niemals der Anfang.“

Reden wir also über uns, unsere Anfänge, unsere Prägungen, unsere Geschichte. Vielleicht macht das erfahrbar, dass Identität auch den Plural von Heimat erlaubt, die Heimaten. Der 9. November, ein „Tag der Herkunft“. Wer fängt an?

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