zum Hauptinhalt
Fast zwei Millionen Flüchtlinge leben bereits im kurdischen Nordirak.
© Darek Delmanowicz/dpa

Krisenland Irak: "Den Staat Irak gibt es nur noch auf dem Papier"

Wie stabil ist der Irak? Erbils Bürgermeister Nihad Latif Kodscha über die Autonomie der Kurdengebiete, den Kampf um Mossul und eine halbe Million neuer Flüchtlinge.

Herr Kodscha, irakische Soldaten wollen Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, vom „Islamischen Staat“ (IS) zurückerobern. Inwiefern ist die nur 80 Kilometer entfernte kurdische Metropole Erbil von den Kämpfen betroffen?

Die militärische Offensive hat zwar begonnen, aber Erbil ist nicht in Gefahr. Seit wir mithilfe der Peschmerga-Streitkräfte die Dschihadisten vor einem Jahr vertreiben konnten, herrscht bei uns Ruhe und Sicherheit.

Schon jetzt versuchen viele Menschen, sich in Sicherheit zu bringen. Sie fliehen vor allem Richtung kurdische Gebiete. Sind Sie darauf vorbereitet?

Bisher sind etwa 1500 Schutzsuchende zu uns gekommen. Aber wenn die Kämpfe heftiger werden, rechnen wir mit bis zu 500.00 Frauen, Kindern und Männern, die wir aufnehmen müssen.

Wie wollen Sie mit diesem Andrang zurechtkommen?

Wir können zwar rund 50 kleine Lager nutzen, die derzeit leer stehen. Doch das reicht natürlich bei Weitem nicht aus. Ich appelliere deshalb an die Staatengemeinschaft, die kurdischen Gebiete im Nordirak zu unterstützen. Wir brauchen dringend Hilfe, um die Flüchtlinge versorgen zu können. Anderenfalls droht eine große Katastrophe.

Die bisherige Hilfe von außen reicht nicht?

Keinesfalls. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zum Beispiel hat seine Unterstützung drastisch reduziert. Auch das Engagement der Europäischen Union ist kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

In den kurdischen Gebieten soll es bereits 1,8 Millionen Geflüchtete geben.

Ja, das sind überwiegend Iraker, die ihre Heimat verloren haben, und ungefähr 300.000 Syrer. Jetzt könnten durch die Schlacht um Mossul noch mal eine halbe Million Schutzsuchende hinzukommen. Aber in ganz Kurdistan leben gerade mal fünf Millionen Menschen.

Nihad Latif Kodscha ist seit 2004 Bürgermeister der kurdischen Stadt Erbil im Nordirak. Er floh als junger Mann vor dem Regime von Saddam Hussein nach Deutschland.
Nihad Latif Kodscha ist seit 2004 Bürgermeister der kurdischen Stadt Erbil im Nordirak. Er floh als junger Mann vor dem Regime von Saddam Hussein nach Deutschland.
© Anne-Beatrice Clasmann/dpa

Wie sieht die Situation in Erbil aus?

Ohne die Hilfe der Bevölkerung wäre es unmöglich, so viele Leute aufzunehmen. Doch mehr können wir wirklich nicht leisten. Auch für die einheimische Bevölkerung gibt es inzwischen oft nicht mehr genug Lebensmittel und Medikamente.

Führt das nicht zu sozialen und wirtschaftlichen Spannungen?

Nein, ernsthafte Konflikte sind mir nicht bekannt. Das läuft bisher alles ziemlich gut. Das liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass die Kurden genau wissen, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Wir waren selbst in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Vertriebene.

Und wie ist das Verhältnis zwischen den Kurdengebieten und der Zentralregierung in Bagdad?

Es gibt keinerlei Unterstützung. Auch Geld, auf das wir Anspruch haben, wird uns seit Langem vorenthalten.

Aber die kurdischen Gebiete streben doch ohnehin nach Autonomie.

Autonomie bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass man sich abspaltet. Wir haben mehrfach versucht, mit den Irakern im Rahmen einer demokratischen Verfassung zusammenzuleben. Daraus ist jedoch nie etwas geworden. Wir wollen nun im November ein Referendum über die Unabhängigkeit Kurdistans abhalten. Ich rechne mit einer überwältigenden Zustimmung.

Gibt es den Staat Irak überhaupt noch?

Nur auf dem Papier. Sunniten, Schiiten, Kurden – jeder hat inzwischen sein eigenes Territorium. Von staatlicher Einheit kann schon lange keine Rede mehr sein.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

Zur Startseite