Vorsicht, Merkel-Falle!: Den Grünen könnten schwere Debatten bevorstehen
Waffenlieferungen und Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes – die Realpolitik der Grünen-Spitze fordert vor allem die Basis heraus. Ein Kommentar.
Manchmal kann Geschichte ironisch sein. Am Tag, an dem Joschka Fischer, Urvater der grünen Wandlungen, 74 Jahre alt wird, ist seine grüne Nachfolgerin im Außenamt in Mali. Annalena Baerbock besucht die deutschen Truppen dort, 1400 Soldaten im Einsatz außerhalb der Bündnisgrenzen. Und Kritik daran gibt es nicht. Das zeigt, wie die Welt, auch die grüne, sich verändert hat.
Auf dem Grünen-Parteitag in Bielefeld im Mai 1999 wurde der damalige Außenminister Fischer wegen des Kosovo-Einsatzes der Nato (mit der Bundeswehr) von einem Kritiker mit einem roten Farbbeutel beworfen, trauriger Höhepunkt einer innerparteilichen Auseinandersetzung.
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Fischer erlitt einen Trommelfell-Riss im rechten Ohr. Nicht nur für den linken, den Fundi-Flügel, bedeutete das Ja zum Einsatz eine Zäsur. Seit jeher stritten Fundis und Realpolitiker, Realos genannt, über die Ausrichtung der Partei. Und heute?
Waffenlieferungen! Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes! So sieht die Wirklichkeit heute aus. Mehr als zwei Jahrzehnte später fordert Außenministerin Baerbock im Widerspruch zum sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz die Lieferung von schweren Waffen, Panzern unter anderem, an die Ukraine, damit die sich gegen die Russen zur Wehr setzen kann. Und Kritik ist nicht vernehmlich. Sogar der Linke Anton Hofreiter steht dahinter.
Ob die Partei als Ganzes den Kurs wirklich befürwortet?
Doch ob die Partei als Ganzes den Kurs wirklich schon befürwortet, ist nicht sicher. Die grundlegende Veränderung muss bei den Grünen, vom Wesen her immer noch eine Sammlungsbewegung, von oben nach unten durchgetragen werden. Da können immer noch etliche an der Basis aufbegehren. Macht im Bund bedeutet denen nicht alles.
Die Grünen dürfen darum nicht in die „Merkel-Falle“ laufen. Was bedeutet, Diskussionen in der Partei nicht mit dem Schlusswort zu beginnen, mit dem Leitspruch: Das ist alternativlos. Die Grünen sind nicht so geduldig wie die Union. Sie erscheinen zwar folgsamer denn je, doch Diskussionen über Alternativen bleiben ihr Lebenselixier. Das mag anstrengend sein, manchmal auch schmerzhaft, aber Politik ist Überzeugungsarbeit, wenigstens darin unverändert.
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Die Wandlung beispielsweise bei Baerbock und Robert Habeck ist schon für die gesamte Öffentlichkeit atemberaubend. Wie muss die erst auf die Parteiöffentlichkeit wirken? Gestern noch, fast buchstäblich, waren die Grünen gegen die Ausfuhr am besten jeglicher Waffen, erst recht der schweren.
Wie wurde Habeck vor dem Überfall der Russen wegen seiner Forderung nach „Defensivwaffen“ für die Ukraine in die Schranken gewiesen. Übrigens auch von Baerbock.
Die Partei ist nicht so weit wie ihre Spitzenleute. Auf die wirkt die wahre Wirklichkeit ein, die gerät in der Koalition in Kollision mit der gewünschten und erzwingt neue Antworten. In Verantwortung fürs Ganze, zumal fürs ganze Land. Das muss dennoch gut erklärt werden.
Besonders dann, wenn die Grünen an den Aufgaben wachsen wollen. Sie schienen vor der jüngsten Wahl kurzzeitig auf dem Weg zur Volkspartei zu sein, sogar zur stärksten. Die Performance von Baerbock und Habeck in ihren Ministerämtern beflügelt diese Vorstellung wieder. Umso wichtiger wird es, die Partei mitzunehmen. Wer die überzeugt, gewinnt auch im Land.