Gewalt in der Ukraine eskaliert: Demonstranten offenbar gezielt mit scharfer Munition erschossen
Die Regierung teilt Schusswaffen an Sicherheitskräfte aus. Mediziner berichten, auf dem Maidan würden Scharfschützen Jagd auf Regierungsgegner machen. Ukrainische Behörden bestätigen mittlerweile, dass seit Dienstag mindestens 64 Menschen ums Leben kamen.
In Kiew sind seit Beginn der massiven Zusammenstöße am Dienstag nach offiziellen Angaben mindestens 64 Menschen getötet worden. Das teilte das Gesundheitsministerium der Ex-Sowjetrepublik am Donnerstag mit. Mehr als 551 Menschen seien verletzt worden. Vertreter der radikalen Regierungsgegner gaben an, dass allein am Donnerstag mehr als 60 Demonstranten getötet worden seien. Beide Seiten machen sich gegenseitig für die Gewalt verantwortlich, die am Dienstag anlässlich eines Protestzugs von Regierungsgegnern zum Parlament ausgebrochen war. Die am Mittwochabend vereinbarte Waffenruhe hatte keine zwölf Stunden gehalten.
Die ukrainischen Sicherheitskräfte haben nach Angaben von Innenminister Vitali Sachartschenko Schusswaffen für den „Anti-Terror-Einsatz“ erhalten. Die Waffen dürften in Übereinstimmung mit dem Gesetz mit scharfer Munition eingesetzt werden, sagte Sachartschenko nach einer am Donnerstag verbreiteten Mitteilung. Zugleich forderte der Minister die Regierungsgegner auf, ihre Waffen niederzulegen und zu friedlichem Protest zurückzukehren. Die Oppositionsführer müssten sich von „radikalen Handlungen“ distanzieren. „Auf den Straßen werden nicht nur Einsatzkräfte, sondern auch friedliche Bürger getötet, in Kiew und westlichen Regionen haben gewaltsame Ausschreitungen begonnen“, heißt es in der Mitteilung.
Demonstranten offenbar gezielt erschossen
Die Opposition nannte die neuerliche Gewalteskalation auf dem Maidan eine „geplante Provokation“ der ukrainischen Staatsführung. Nach unbestätigten Aussagen liefen Dutzende Rekruten von Truppen des Innenministeriums zu den Regierungsgegnern über.
Ukrainische Demonstranten haben nach Darstellung des Innenministeriums in Kiew 67 Polizisten als Geiseln genommen. Das teilte das Ministerium am Donnerstag mit.
Erst am Mittwochabend hatten Regierung und Opposition eine Waffenruhe vereinbart. Derweil wurde aus Sicherheitsgründen der Regierungssitz geräumt. Alle Angestellten des Kabinetts seien am Donnerstagmorgen aus dem Gebäude unweit der Proteste in Sicherheit gebracht worden, sagte eine Regierungssprecherin.
Die Deutsche Botschaft warnte telefonisch Staatsbürger in Kiew, den Maidan zu betreten, weil Lebensgefahr bestehe.
Die Demonstranten seien auf dem Maidan gezielt erschossen worden, sagte der Abgeordnete Swjatoslaw Chanenko von der rechtspopulistischen Partei Swoboda (Freiheit) in einer am Donnerstag verbreiteten Mitteilung. Die meisten Opfer gebe es auf der Institutsstraße zum Regierungsviertel. Demonstranten und Regierung geben sich gegenseitig die Schuld für das Blutbad. „Jeder wurde mit einer einzigen Kugel erschossen“, sagte auch der Arzt Dmitri Kaschin am Donnerstag der Agentur Interfax. Auch die renommierte Medizin-Professorin Olga Bogomolez betonte, offenbar seien Scharfschützen auf der Jagd nach Regierungsgegnern. Das Innenministerium sprach von mindestens einem getöteten und 29 verletzten Polizisten. Die Kämpfe auf dem Maidan dauern seit 9.20 Uhr Ortszeit unvermindert an.
Die ukrainischen Sicherheitskräfte haben nach Angaben von Innenminister Vitali Sachartschenko Schusswaffen für den „Anti-Terror-Einsatz“ erhalten. Die Waffen dürften mit scharfer Munition eingesetzt werden, sagte Sachartschenko einer Mitteilung zufolge am Donnerstag.
Die gesamte Kiewer Innenstadt sei außer Kontrolle, überall sollen Schützen Position bezogen haben - als Reaktion auf den Gewaltausbruch am Maidan. Diverse Gebäude am Maidan sind besetzt, auch das Hotel Ukraine, direkt am Maidan, die Hinterseite führt direkt zur Bankowa Straße hin, vis-a-vis ist der Amtssitz von Präsident Janukowitsch. Laut unserer Reporterin wird mit scharfer Munition geschossen, von beiden Seiten. Auch vor ihrem Haus, in der Prorizna Straße, 50 Meter vom Kiewer Rathaus entfernt, spielen sich bürgerkriegsähnliche Szenen ab: Krankenwagen fahren die Verletzten weg, während Hundertschaften, mit Helm und Stöcken bewaffnet vorbei laufen. Auch am Rathaus wird gekämpft, in den oberen Stockwerken werden Verletzte versorgt.
Mindestens drei Sicherheitskräfte seien bei den jüngsten Zusammenstößen getötet und mehr als 50 verletzt worden. Mehr als 30 Einsatzkräfte hätten Schusswunden erlitten, teilte das ukrainische Innenministerium am Donnerstag mit. Seit Dienstag seien damit insgesamt mehr als 500 Mitglieder von Polizei und Innentruppen verletzt worden. 63 von ihnen befänden sich weiter in kritischem Zustand, hieß es. Aufseiten der Regierungsgegner gab es unbestätigten Angaben zufolge allein am Donnerstag Dutzende Tote und etliche Verletzte.
Merkel telefoniert mit Janukowitsch
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rief den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch “dringend“ auf, eine Regierungsneubildung und eine Verfassungsänderung zuzulassen. Dies habe Merkel dem Präsidenten am Donnerstagmorgen in einem Telefonat mitgeteilt, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Merkel habe bei dem Gespräch die jüngste Eskalation scharf kritisiert und Janukowitsch die Hauptverantwortung dafür gegeben. Nur Gespräche mit schnellen, greifbaren Ergebnissen bei Regierungsbildung und Verfassungsreform böten die Chance zu einer nachhaltigen Lösung des Konflikts, erklärte Seibert. Die Bundeskanzlerin habe die Bereitschaft der EU, Deutschlands und weiterer Partner erklärt, Gespräche von Regierung und Opposition zu unterstützen. Sie habe Janukowitsch dringend geraten, dieses Angebot anzunehmen. “Jedes Spiel auf Zeit werde den Konflikt weiter anheizen und berge unabsehbare Risiken“, habe Merkel deutlich gemacht. Sie habe auch darauf verwiesen, dass die EU-Außenminister heute wegen der jüngsten Gewalteskalation über Sanktionen berieten.
Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, der sich zurzeit in Kiew aufhält, erklärte, er könne bestätigen, "dass Scharfschützen angefangen haben, auf Maidan-Demonstranten zu schießen“. Die große Zahl der Toten und Verletzten lasse darauf schließen, dass scharfe Munition verwendet worden sei, erklärte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments. Angesichts des Blutbades seien „gezielte Sanktionen gegen die Verantwortlichen für diese Gewalt jetzt nötiger“ denn je. „Die Zeit ist gekommen, um sich so schnell wie möglich auf Sanktionen zu einigen und sie umzusetzen.“ Brok erklärte, diese Sanktionen seien "weder gegen das ukrainische Volk gerichtet, noch würden sie normale Bürger der Ukraine treffen. Stattdessen muss die Europäische Union gegen die für die Gewalt Verantwortlichen Einreisesperren verhängen und ihre Bankkonten sperren.“
Drei EU-Außenminister verlängern Kiew-Mission
Die Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen verlängern ihre Vermittlungsmission in der Ukraine. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und seine Kollegen Laurent Fabius und Radoslav Sikorski bleiben am Donnerstag in Kiew und reisen nicht zu einem Krisentreffen mit ihren EU-Kollegen nach Brüssel, wie EU-Diplomaten in der belgischen Hauptstadt der Nachrichtenagentur AFP sagten. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sagte, sie stehe mit den drei Ministern in Kiew in Kontakt.
Kremlchef Wladimir Putin schickt auf Bitte des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch einen Vermittler von Kiew. Der scheidende Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin solle an Gesprächen zwischen Führung und Opposition in der Ex-Sowjetrepublik teilnehmen, sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag nach Angaben russischer Agenturen. Die ukrainische Opposition gilt als antirussisch. Die Proteste in Kiew waren Ende November ausgebrochen, nachdem Janukowitsch auf Druck Moskaus ein Abkommen zur engeren Zusammenarbeit mit der EU abgelehnt hatte.
Bürgermeister von Kiew verlässt Regierungspartei
Der Bürgermeister von Kiew, Volodymyr Makeienko, verließ unterdessen die regierende Partei der Regionen von Präsident Janukowitsch. Mit diesem Schritt protestiere er gegen "das Blutbad und den Bruderkampf" im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt, erklärte Makeienko.
Präsident Viktor Janukowitsch und die Anführer der Oppositionsparteien im Parlament - Arseni Jazenjuk, Vitali Klitschko und Oleg Tjagnibok - hatten am Vorabend überraschend einen Gewaltverzicht und neue Verhandlungen über einen Ausweg aus dem monatelangen Machtkampf verkündet. Am Donnerstag landeten Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und seine Kollegen aus Frankreich und Polen zu Krisengesprächen in der Hauptstadt. Steinmeier appellierte an beide Seiten, „eine Atempause einzulegen und die Gewalt herunterzufahren“.
Auch in vielen Städten im Westen der Ex-Sowjetrepublik blieb die Lage angespannt. In der Großstadt Lwiw (Lemberg) patrouillierten sogenannte Selbstverteidigungskräfte in den Straßen. Die antirussisch geprägte Gegend ist eine Hochburg radikaler Regierungsgegner.
Überraschend galt seit der Nacht eine Waffenruhe. Darauf hatten sich Präsident Janukowitsch und die Opposition verständigt. Beide Seiten wollen am Donnerstag weiter nach einem Ausweg aus der Krise suchen. Ein Sturm von Sicherheitskräften auf den zentralen Unabhängigkeitsplatz stehe derzeit nicht zur Debatte, hatten die Oppositionsführer Arseni Jazenjuk und Viali Klitschko nach einem Treffen mit Janukowitsch noch gesagt. Auf dem Maidan harren die Regierungsgegner aus.
Noch kurz zuvor hatte alles auf eine massive Steigerung der Gewalt hingedeutet. Regierungskräfte hatten am Mittwoch landesweite „anti-terroristische“ Aktionen angekündigt; Janukowitsch hatte den Armeechef abgesetzt und durch einen treuen Gefolgsmann ersetzt. Der Nationale Sicherheitsdienst und das Zentrum für Terrorabwehr hätten die Entscheidung für diese Einsätze getroffen, nachdem staatliche Waffenlager geplündert worden seien, erklärte der Chef der Sicherheitsdienste, Oleksander Jakimenko. „Die extremistischen und radikalen Gruppen bedrohen durch ihre Handlungen das Leben von Millionen Ukrainern“, hieß es weiter. Es gehe um „konkrete Terrorakte“. Organisationen, die als terroristisch eingestuft werden, dürfen laut Gesetz „liquidiert“ werden.
Bereits am Dienstag starben 30 Menschen bei Straßenschlachten.
Am Dienstag hatten die Sicherheitskräfte begonnen, den seit Wochen von oppositionellen Demonstranten besetzten Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew gewaltsam zu räumen. Anschließend war es zu schweren Straßenschlachten mit mindestens 30 Toten und mehr als 1000 Verletzten gekommen. Auch am Mittwoch setzten Polizeikräfte Wasserwerfer gegen verbarrikadierte Demonstranten ein. Die Regierungsgegner schleuderten immer wieder Steine und Brandsätze zurück.
Merkel warnt Janukowitsch: „Kein Spiel auf Zeit“
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch angesichts der jüngsten Gewaltausbrüche in dessen Land vor einem Spiel auf Zeit gewarnt. Merkel habe die Eskalationen in einem Telefonat mit Janukowitsch am Donnerstagvormittag scharf verurteilt, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Alle Seiten müssten unverzüglich von Gewalt Abstand nehmen und die vereinbarte Waffenruhe umsetzen. Die Hauptverantwortung dafür liege bei der Staatsführung. „Nur Gespräche mit schnellen, greifbaren Ergebnissen bei Regierungsbildung und Verfassungsreform bieten die Chance zu einer nachhaltigen Lösung des Konflikts“, wird Merkel zitiert. Die Bundeskanzlerin habe die Bereitschaft der EU, Deutschlands und weiterer Partner erklärt, Gespräche von Regierung und Opposition zu unterstützen. Sie habe Janukowitsch dringend geraten, dieses Angebot anzunehmen. Jedes Spiel auf Zeit werde den Konflikt weiter anheizen und berge unabsehbare Risiken.
EU kündigt Sanktionen an
Die Europäische Union kündigte an, mit Sanktionen gegen Präsident Viktor Janukowitsch und dessen Führungszirkel vorzugehen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton beraumte für den heutigen Donnerstag ein Krisentreffen der 28 Außenminister in Brüssel an, wo die Strafmaßnahmen beschlossen werden sollen. Ashton teilte mit, „auch Maßnahmen gegen jene, die für Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind“, würden erörtert. Im Anschluss an die deutsch-französische Kabinettstagung in Paris traten auch Frankreichs Staatschef François Hollande und Kanzlerin Angela Merkel für Sanktionen ein.
Gerechnet wird nun damit, dass Janukowitsch und enge Vertraute mit einem Einreiseverbot belegt werden. Bedeutsamer ist, dass auch ihre EU-Konten aller Voraussicht nach eingefroren werden. Die ukrainische Sängerin und Aktivistin Ruslana Lyschytschko, die am Mittwoch in Brüssel für Unterstützung der Opposition warb, behauptete, ein Großteil von Janukowitschs Vermögen lagere auf Konten der Deutschen Bank.
Die frühere Premierministerin Julia Timoschenko forderte in einer auf dem Kiewer Maidan-Platz verlesenen Erklärung die Opposition auf, eine Delegation zum EU-Außenministertreffen zu schicken. Persönliche Sanktionen gegen Janukowitsch könnten „den großen Terror in der Ukraine nicht stoppen“. Es gehe jetzt darum, die Diktator Janukowitschs zu beenden, „jetzt und für immer“. (mit Reuters, AFP, dpa)