Mögliche Falschaussagen beim NSU-Prozess: Dem Zeugen Enrico T. droht Strafverfahren
Erstmals könnte beim NSU-Prozess ein Verfahren gegen einen Zeugen eingeleitet werden. Enrico T. steht unter Verdacht, offenkundig vor Gericht gelogen zu haben.
Vier Stunden lang quälte der Zeuge am Mittwoch die Richter, die Ankläger, die Verteidiger und die Nebenklage-Anwälte mit Erinnerungslücken und offenkundigen Lügen. Das könnte Konsequenzen haben. Im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München droht jetzt erstmals einem Zeugen ein Verfahren wegen des Verdachts der uneidlichen Falschaussage. Enrico T. hatte Fragen regelmäßig mit "ich kann mich nicht erinnern", "ich weiß es nicht" oder "ich glaube nicht" beantwortet. Der Thüringer war nach Ansicht der Bundesanwaltschaft ein Verbindungsmann bei der Beschaffung der Pistole Ceska 83, mit der die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt neun Migranten erschossen. Die Bundesanwaltschaft beantragte am späten Mittwochnachmittag, zwei besonders unglaubwürdig erscheinende Antworten von Enrico T. zu protokollieren, da der Verdacht auf eine uneidliche Falschaussage vorliege.
Der 38 Jahre alte Lokführer, eine unauffällig erscheinende Figur mit krimineller Vergangenheit, soll laut Anklageschrift für seinen Thüringer Freund Jürgen L. den Kontakt zum Schweizer Hans-Ulrich M. hergestellt haben, dem die Ceska 83 gehörte. Im Frühjahr 2000 soll die Waffe von M. aus über Jürgen L. und einen Rechtsextremisten in Jena an die Angeklagten Ralf Wohlleben und Carsten S. gelangt sein. Carsten S. hat im Prozess zugegeben, die Ceska 83 in Chemnitz Mundlos und Böhnhardt übergeben zu haben.
Besuch in der Schweiz
Enrico T. hatte bereits am 28. April im NSU-Prozess ausgesagt. Damals behauptete er, mit der Ceska 83 habe er nichts zu tun gehabt. Der 6. Strafsenat schien die Angaben zu bezweifeln, jedenfalls luden die Richter Enrico T. erneut. Am Mittwoch war der Mann allerdings offenkundig noch verstockter als im April. Vor allem bei Fragen zu seiner Bekanntschaft mit dem Schweizer Hans-Ulrich M.
Er sei nach der Vernehmung vom April "kurzschlussreaktionsmäßig" in die Schweiz gefahren, sagte Enrico T. Er besuchte M. in dessen Berghütte, doch er will mit ihm über den Auftritt im NSU-Prozess nicht gesprochen haben. Angeblich, um sich selbst "zu schützen". Das ist die eine Aussage, die der Bundesanwaltschaft als derart unglaubwürdig aufstieß, dass die Ankläger die Protokollierung wegen des Verdachts der uneidlichen Falschaussage beantragten.
Schießkugelschreiber ohne Vergangenheit
Bei der zweiten Aussage ging es um einen Schießkugelschreiber, den Enrico T. mutmaßlich von Hans-Ulrich M. bekommen hatte. Die Polizei stellte die Waffe 2004 bei T. sicher und er wurde für den unerlaubten Besitz bestraft. Am Mittwoch beharrte Enrico T. darauf, er könne sich nicht erinnern, von wem er den Schießkugelschreiber erhalten habe. Die Bundesanwaltschaft hält auch diese Angabe für strafwürdig. "Das Vortäuschen von Erinnerungslücken" stelle ebenfalls eine Falschaussage dar, sagte Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten. "Zumindest der Anfangsverdacht der uneidlichen Falschaussage liegt vor."
Sollte der Strafsenat die mutmaßlichen Lügen von Enrico T. in einem Protokoll erfassen und ein Verfahren folgen, droht dem Zeugen eine Strafe von drei Monaten bis fünf Jahren Haft. Im Fall Enrico T. wäre sogar ein härterer Urteilsspruch zu erwarten, da er bereits einmal wegen einer falschen uneidlichen Aussage bestraft wurde. Der Thüringer ist allerdings nicht der einzige, der im NSU-Prozess offensichtlich mauert. Immer wieder haben Zeugen, vor allem solche mit Bezug zur rechten Szene, Erinnerungsschwächen und Ahnungslosigkeit präsentiert. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl und weitere Prozessbeteiligte bohrten meist kräftig, manchmal tagelang. Doch selbst wenn die Zeugen stur blieben bis zuletzt, verzichtete Götzl auf eine Sanktion. Das könnte sich nun, 14 Monate nach Beginn der Hauptverhandlung, ändern.
Frank Jansen