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Die Presse- und Informationsfreiheit in Demokratien ist unter Druck. Hier ein Ausschnitt des Artikels 5 des Grundgesetzes.
© Florian Kleinschmidt/dpa

Medienfreiheit in Gefahr: Dem westlichen Journalismus droht der Kollaps

Gesellschaften müssen jetzt debattieren, welche Informationssysteme sie sich leisten wollen. Denn die Vierte Säule der Demokratie bricht weg. Ein Gastbeitrag

Der Autor ist Direktor des Kölner Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM) und Beiratsmitglied des jährlichen Medientreffens M100 in Potsdam, das in diesem Jahr unter dem Titel „NEUSTART – Shaping the Post-COVID media order“ stand.

Wie im Brennglas zeigt uns Corona-Krise die scheinbar unversöhnliche Gleichzeitigkeit zweier Entwicklungen, die die Digitalisierung seit jeher prägten. Erstens ein trotz aller „Massenselbstkommunikation“ (Manuel Castells) auf Twitter, YouTube, Facebook und Co. nicht nachlassender Hunger nach journalistischen Informationen. Zweitens: Die existenzielle Krise jener Institutionen, die sie herstellen. 

Weder ihre Rekordreichweiten noch das in den vergangen Monaten wieder steigende Vertrauen in Nachrichtenmedien können darüber hinwegtäuschen, dass sich die Probleme, mit Journalismus Geld zu verdienen, mit Covid-19 nochmal dramatisch verschärft haben.

Wie andere Industrien leiden auch Medien weltweit unter den Folgen der absehbar größten Rezession seit hundert Jahren. Kurzarbeit, Entlassungen, für aufwendige Segmente wie Auslands- und Wissenschaftsjournalismus werden die Mittel knapp und Lokalzeitungen droht vielerorts das Aus. Europas Medienordnung befindet sich an einer Wegscheide.

Mit der unfreiwilligen Entschleunigung durch den Lockdown weitet sich bei vielen der Blick, auf den Wert jener Dinge, auf die es wirklich ankommt. Eine freie Publizistik gehört dazu. Die Niederschlagung der Naziherrschaft und das Ende des Kalten Krieges sind untrennbar mit diesem Ideal verbunden. Der Ausnahmezustand hat gezeigt, dass nicht nur medizinisches Personal oder Supermarktangestellte systemrelevant sind, sondern auch Journalistinnen und Journalisten.

Unabhängiger Journalismus ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr 

Doch das, was wir lange als „normal“ betrachtet haben, wenn es um unabhängigen Journalismus geht, ist längst keine Selbstverständlichkeit. Dafür muss man nicht in die Geschichtsbücher schauen. Ein Blick nach Ungarn, dem Heimatland des ehemaligen Chefredakteurs von index.hu Szabosz Dull, der für seinen Kampf gegen außerredaktionelle Einmischung gerade mit dem M100 Media Award ausgezeichnet wurde, reicht.

Der Chefredakteur der ungarischen Nachrichtenplattform index.hu, Szabolcs Dull (li.), wurde vor wenigen Tagen in Potsdam mit dem Medienpreis M100 ausgezeichnet (hier mit Finanzminister German Finance Minister Olaf Scholz).
Der Chefredakteur der ungarischen Nachrichtenplattform index.hu, Szabolcs Dull (li.), wurde vor wenigen Tagen in Potsdam mit dem Medienpreis M100 ausgezeichnet (hier mit Finanzminister German Finance Minister Olaf Scholz).
© Hannibal Hanschke/REUTERS

Ungarn ist kein Einzelfall. Medienfreiheit, Pluralismus und Journalismus im Dienste der Demokratie sind in Europa so großen Gefährdungen ausgesetzt sind wie seit Jahrzehnten nicht. Autokraten und Populisten fahren mitten in Europa unbehelligt Angriffe gegen „unpatriotische“ Berichterstattung und nutzen Notstandsregelungen dazu, unabhängige Journalisten zum Schweigen zu bringen.

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All die Probleme, die mit dem Aufstieg des Internets verbunden sind, sind derweil nicht verschwunden, nur weil die „sozialen Medien“ zu einer Zeit, in der Abstand mit Angela Merkel zum „Ausdruck von Fürsorge“ wurde, zuletzt tatsächlich ihrem Namen gerecht zu werden schienen. Denn selbst in einer Krise, in der zuverlässige Informationen über Leben und Tod entscheiden können, geben beträchtliche Teile der Gesellschaft Verschwörungstheorien und Fake News den Vorzug über Fakten. Währenddessen wachsen die Gewinne digitaler Plattformen, deren Geschäftsmodelle auf Emotion und nicht auf Aufklärung hin optimiert sind, in den Himmel.

Setzen sich die aktuellen Entwicklungen fort, droht ein Horrorszenario

Was es bedeutet, wenn Gesellschaften die gemeinsame Wissensbasis – und die Fähigkeit, diese zu verhandeln – abhanden kommt, zeigt der laufende US-Wahlkampf. Wohin „Nachrichtenwüsten“, Fake News, Hassrede und Demokratie-Hacking auch diesseits des Atlantiks bis 2030 führen können, das ist Stoff für einen Horrorfilm, der Wirklichkeit werden könnte.

Das ist das Ergebnis eines Szenarios zu „Europas Medienlandschaft 2030“, den eine Gruppe junger Journalisten aus ganz Europa im Vorfeld der Konferenz durchgespielt hat. Er zeigt ein facettenreiches, in seiner Konsequenz eindeutiges Bild: Wenn sich die aktuellen Entwicklungen fortsetzen, droht unseren Informationsökosystemen der Kollaps.

Rettungspakete und Krisenhilfen stehen Medienunternehmen zu - ebenso wie anderen Branchen auch. Die Vizepräsidentin der EU-Kommission Věra Jourová kündigte für Ende des Jahres einen „historischen“ Rettungsplan der Kommission an. Doch damit ist es nicht getan. Es braucht einen Neustart.

Heute handeln, damit die vierte Säule der Demokratie nicht wegbricht

Dies setzt voraus, sich vom Hier und Jetzt und aktuellen Krisenbeschreibungen zu lösen und sich stattdessen mit der Frage zu beschäftigen, in welcher Medienlandschaft, mit welcher Informationsarchitektur wir, eingedenk technologischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen, in Zukunft leben könnten; und damit, was wir heute tun können, um diese positiv zu gestalten.

Anders formuliert: Was müssen wir heute tun, um nicht 2030 aufzuwachen und festzustellen, dass unseren Demokratien die vierte Säule weggebrochen ist.

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Klar abzeichnen tut sich schließlich schon jetzt, unter welchen technischen Vorzeichen Öffentlichkeit im Jahr 2030 stattfinden wird: Mit künstlicher Intelligenz und lernenden Algorithmen, steigenden Übertragungsgeschwindigkeiten, fortschreitender Automatisierung und dem Verschmelzen von physischer und virtueller Welt werden sich auch Medien und Journalismus grundlegend verändern.

Sie werden Teil einer Welt werden, in der unser Leben von einer allgegenwärtigen digitalen Identität begleitet wird, bestehend nicht nur aus Kommunikationsdaten, wie in den Nuller-Jahren, sondern aus den Unmengen von Verhaltens- und Sensordaten, die wir jeden Tag produzieren.

Diese Fragen müssen beantwortet werden

Wie und zu welchem Zweck nutzen Medienunternehmen, aber auch der Staat diese Technologien? Wer gehört zur Informationselite und wer wird zurückgelassen, weil es ihm an Medienkompetenz mangelt – oder weil er im Sinne der Datenökonomie des Silicon Valley-Kapitalismus nicht mal „Kostenloskultur“ verdient?  Und verstärkt sich die Segmentierung in unterschiedliche Informations- und Kommunikationswelten, die sich im Grunde kaum mehr etwas zu sagen haben?

Das sind nur ein paar der entscheidenden Zukunftsfragen, die im Grunde heute schon keine mehr sind. Es geht ums Ganze.  „We are all in this together“, meint der US-Aktivist Cory Doctorow. Für Kulturpessimismus („Das Internet ist an allem schuld!“) ist genauso wenig Zeit wie für naiven Silicon Valley-Messianismus.

Und „All in this together“ umschreibt auch die positiven Szenarien, die Chancen, die mit Blick auf demokratische Öffentlichkeiten 2030 bestehen. Eine inklusive, vielfältigere, resilientere Öffentlichkeit, in der unabhängige journalistische Angebote – technologisch auf Höhe der Zeit und mit belastbaren Geschäftsmodellen ausgestattet – Information, Dialog und Debatte zu lokalen, nationalen und europäischen Sachverhalten ermöglichen, in der Medienkompetenz und News Literacy weit verbreitet sind und in der Künstliche Intelligenz und Algorithmen dem Gemeinwohl dienen. Das mag aus heutiger Sicht unwahrscheinlich erscheinen. Einfache Lösungen, für alle Länder und Branchen anwendbare Patentrezepte gibt es nicht.

Welchen Journalismus wollen Gesellschaften sich leisten?

Umso wichtiger ist es, dass Bürgerinnen und Bürger, aber auch Gesellschaften sich Gedanken darüber machen, mit welcher Medienlandschaft sie eigentlich leben wollen, also etwa auch „wie viel“ und welche Art Journalismus sie sich leisten möchten - und wie das zu finanzieren ist.

Das kann aus – Stichwort Spotify für Journalismus – neuen, innovativen Angeboten der Unternehmen heraus passieren, aber auch mittels staatlicher Instrumente wie der Mehrwertsteuer oder der Anerkennung des Journalismus als gemeinnützig, was wiederum Raum schaffen würde für mehr Förderung aus der Zivilgesellschaft.

Vor allem aber braucht es Offenheit, die Bereitschaft, ausgetretene Pfade, ritualisierte Grabenkämpfe zwischen einzelnen Branchen und Eitelkeiten hinter sich zu lassen, und den Willen zur Zusammenarbeit. Auch Europa kann seine digitale Zukunft nur gemeinsam gestalten. Unsere zukünftige Wertschöpfung wie auch das Schicksal unserer Demokratien hängen auch davon ab, ob es gelingt, digitale Souveränität zu entwickeln.

Um diesen inflationär verwendeten Begriff wurde zuletzt ein ziemlicher Popanz aufgebaut. Doch geht es nicht darum, mal eben die Gründung eines europäischen Google per Brüsseler Direktive zu verordnen, schon gar nicht um Autarkie oder Isolation. Es geht schlicht um digitale Handlungsfähigkeit – und um Rahmenbedingungen, die Journalismus Luft zum Atem lassen und europäischen Werten wie Informations- und Medienfreiheit unter neuen Vorzeichen Geltung verschaffen.

Was ist eigentlich das „Normale“? In welcher Medienlandschaft wollen wir leben? Diese Frage ist letztlich nur normativ zu beantworten. Und sie ist zu wichtig, um sie den den engen Zirkeln von Medienpolitik, Wissenschaft und Unternehmen zu überlassen. „Daseinsvorsorge für die demokratische Öffentlichkeit“, darüber muss auch öffentlich, gesamtgesellschaftlich diskutiert werden. 

Leonard Novy

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