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Frank Richter (l.) war als Kaplan der Dresdner Hofkirche 1989 auf der Straße. Ihm stand 1989 der frühere Dresdner Volkspolizist Detlef Pappermann (r.) gegenüber.
© Ronny Rozum

Die Wende in der DDR: Das Wunder von Dresden - warum die Revolution friedlich blieb

Heute vor 25 Jahren, am 8. Oktober 1989, sah alles nach einer Eskalation aus, als sich in Dresden das Volk und die Polizei gegenüberstanden. Doch warum wurde am Ende nicht geschossen? Zwei Hauptakteure, Kaplan Frank Richter und Offizier Detlef Pappermann, schlossen auf der Straße spontan Frieden. Hier erinnern sie sich im Doppelinterview.

Die friedliche Revolution in der DDR war gar keine. Sie war eine Summe aus vielen kleinen Revolutionen, überall im ganzen halben Deutschland zwischen Elbe und Oder; nicht alle gingen friedlich aus. Stasi und Polizei schwangen nicht nur in Ost-Berlin ihre Knüppel auf die Köpfe der Opposition, in Leipzig standen Panzer in Bereitschaft. Tausende gerieten in Haft, wurden dort malträtiert. Und in Dresden brannte der Hauptbahnhof, als die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus Prag auf ihrem Weg in das andere halbe Deutschland durchfuhren und Tausende versuchten, die Gleise zu stürmen. Ein heißer Herbst drohte 1989, als sich am 8. Oktober ausgerechnet in Dresden alles wendete. In einer dramatischen halben Stunde einigten sich Protestler und Polizei spontan auf der Straße, nicht aufeinander loszugehen. Frank Richter, damals katholischer Kaplan und unverhoffter Wortführer der Demonstrationen, und Detlef Pappermann, damals Offizier der Volkspolizei und eingesetzt bei geheimen Sondereinheiten, standen sich gegenüber – und verabredeten ihre eigene kleine Revolution, ohne die die große Geschichte vielleicht anders verlaufen wäre. In unserem Doppelinterview erinnern sich beide und hinterfragen ihre Einstellungen und ihr Verhalten von damals.

Herr Richter, Herr Pappermann, Sie standen sich gegenüber, als Ihr Land in Aufruhr geriet. Haben Sie damals an eine bessere DDR geglaubt?

Richter: Ich habe nie an die DDR geglaubt, ich fand sie furchtbar. Die DDR hat mich eingesperrt. Sie hat mir die Bücher, die ich lesen wollte, geklaut – und die Radio- und Fernsehprogramme, die ich verfolgen wollte, auch. Wir lebten ja in Dresden im Tal der Ahnungslosen, hatten keinen Westempfang. Die DDR war grau, sie stank. Ich habe 1987 noch mit Freunden um viel Geld gewettet: Bald ist es mit diesem Staat zu Ende; Silvester 1999/2000 feiern wir unterm Eiffelturm.

Pappermann: Ich habe an die DDR geglaubt. Ich kannte nichts Besseres, keine Alternative. Ich habe lange als Gießer gearbeitet, gut verdient und gut gelebt. Zur Volkspolizei zu gehen, war ein spontaner Entschluss. Ein Freund fragte mich. Ich trete nun mal gern für Recht und Ordnung ein, glaube an das Gute im Menschen. Ob ich das bis zur letzten Konsequenz durchdacht habe: keine Ahnung. Ich bin eben spontan. Noch heute bin ich der festen Meinung, dass das Ziel des Sozialismus, allen Menschen solle es weltweit gut gehen, das richtige ist. Dass der Weg der DDR nicht richtig war, habe ich damals nicht gewusst. Woher auch?

Richter: Ich als Katholik habe eher nach Rom geguckt. In der evangelischen Kirche gab es mehr Sympathisanten für eine reformierte DDR oder einen dritten Weg zwischen Ost und West. In der vergleichsweise kleinen katholischen Kirche war das sehr selten. Ich habe nie Friedensandachten durchgeführt. Stattdessen habe ich mich mit Menschenrechtsgruppen getroffen und Dokumente für Ausreisewillige gesiegelt. In der Bundesrepublik wurden Dokumente, die von kirchlichen Stellen gesiegelt worden waren, als beglaubigt anerkannt. DDR-Bürger, die flüchten wollten, konnten ja schlecht zum Polizisten oder zum Abschnittsbevollmächtigten gehen.

Pappermann: Es war nicht alles in Ordnung, das haben wir als Polizisten genauso gemerkt wie jeder andere. Wir waren in diesem System sicherlich ein kleines Rädchen. Ich habe mich in meiner Funktion als kleines Rädchen arrangiert.

"Jetzt haben sie in Berlin jeden Sinn für die Realität verloren."

Herr Pappermann, am 3. und 4. Oktober mussten Sie den Dresdner Hauptbahnhof gegen Zehntausende wütende Menschen sichern. Haben Sie sich in diesem Moment auch als kleines Rädchen gefühlt?

Pappermann: Sich innerhalb von ein paar Tagen vom Rädchen zum Rad zu entwickeln, das ist nicht drin. Verstehen Sie das? Ich war damals bei einer Spezialeinheit tätig. Wir sind an Informationen gekommen, die nicht mal die Polizei hatte. Ich war Parteisekretär in unserer Truppe, der Obermime. Unsere Truppe ist heute noch eine verschworene Einheit, wir treffen uns mehrmals im Jahr. Aber wir sind integriert und inzwischen normaler Bestandteil der heutigen Spezialeinheiten. Seit Anfang 1989 hatten wir das ungute Gefühl, dass was schiefläuft. Als dann die Botschaftszüge durch Dresden fahren sollten, sagte ein Kollege zu mir: Jetzt haben sie in Berlin jeden Sinn für die Realität verloren. Aber man ist als Polizist ein Befehlsausführender, anders funktioniert der Laden nicht. Auf diese Verpflichtung hatte ich schließlich einen Eid geschworen.

Es gab Polizisten, die sagten: Da mache ich nicht mehr mit. Eid hin oder her, meine Nachbarn verprügele ich nicht.
Pappermann: Diese Frage habe ich mir auch gestellt, aber erst hinterher. Wir waren im Bahnhof und hatten mehr Angst als die Leute da draußen. Ich habe Steine gegen meinen Körper bekommen. Ich war damals wie vor den Kopf gestoßen: Dass Zugeführte – heute sagt man: Festgenommene – geschlagen wurden wegen Nichtigkeiten, ist natürlich dramatisch.

Herr Pappermann, es gab Pläne zur Internierung Oppositioneller. Wussten Sie das als Spezialeinheit?
Pappermann: Wir wussten das nicht. Der Informationsfluss gerade in dieser dramatischen Zeit ging nur von unten nach oben, uns hat keiner mehr was gesagt. Es gab wohl Pläne, alle Ausländer in der DDR zu internieren, wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, auch alle Westjournalisten – aber das habe ich erst hinterher erfahren.

Richter: Ich habe damals oft gedacht, dass es zu einer chinesischen Lösung kommen kann – mit Panzern und Toten. SED-Führer wie Egon Krenz waren doch danach eigens nach China gereist. In Dresden gab es die ersten schweren Ausschreitungen am 3. Oktober am Bahnhof, am Tag drauf furchtbare Prügelszenen schon am Nachmittag, bis in die Nacht hinein waren Sirenen von Krankenwagen in der ganzen Stadt zu hören. Am Morgen danach besetzten 52 Leute unsere Kirche. Sie sagten: Wir wollen uns nicht mehr verprügeln lassen, wir wollen ausreisen, die Kirche ist unser letzter Schutzraum. Dann kamen Polizei und Sicherheitsleute; die Information ging hoch bis zu Stasi-Chef Erich Mielke. Und stellen Sie sich vor: In der Nacht darauf bekamen die 52 ihre Ausreisestempel für die Bundesrepublik. Das, worauf manche jahrelang gewartet hatten, ertrotzten sich andere in ein paar Stunden. Plötzlich gab es Unrecht im Unrecht; da dachte ich: Wenn ein Staat nur noch blind handelt, geht es dem Ende zu. Es dramatisierte sich alles von Tag zu Tag, aber in den Zeitungen stand nichts, im Radio hörte man nichts – und Westfernsehen gab es in Dresden nicht. Selbst die Grenze zur Tschechoslowakei war zu, die DDR war rundherum abgeriegelt.

"Wir sind zusammen hier, wir wollen das nicht."

Schauplatz Fußgängerzone. Nach dem zweiten Weltkrieg lud die Prager Straße mit realsozialistischer Architektur zum Bummeln. In den Tagen des Umbruchs wurde sie zur Demoroute durch die Innenstadt.
Schauplatz Fußgängerzone. Nach dem zweiten Weltkrieg lud die Prager Straße mit realsozialistischer Architektur zum Bummeln. In den Tagen des Umbruchs wurde sie zur Demoroute durch die Innenstadt.
© Ullstein

Pappermann: Das zeigt, welche Ohnmacht vorhanden war. Unrecht wird im Unrechtsstaat noch lange nicht zum Recht. Wir haben zwei Tage Gewalt erlebt, ich war mittendrin. Am Bahnhof haben junge Kollegen um ihr Leben gebangt. Da hat kaum einer daran gedacht: Ich rette hier den Sozialismus. Wir dachten nur: Wenn hier Zehntausende in den Bahnhof reinkommen, werden wir gelyncht. Drinnen waren wir nur 200 Polizisten. Die Steine, die von draußen flogen, haben wir zurückgeworfen. Es hat sich hochgeschaukelt.

Richter: Nach dem zweiten Tag ging ich zum Hauptbahnhof, um mit eigenen Augen zu sehen, was los ist. Es war der 5. Oktober. Zahlreiche Dresdner versammelten sich von nun an jeden Tag hier und entdeckten zweierlei. Erstens einen zerstörten Bahnhof, an den man nicht mehr rankam. Zweitens, und das war entscheidend, dass sie viele sind. Auf der Straße, beim Gucken und Miteinanderreden, haben die Menschen erkannt: Wir sind zusammen hier, wir wollen das nicht.

Pappermann: Das Bild wandelte sich, nicht nur in Dresden. Erst kamen die Ausreiser, die riefen: Wir wollen raus! Dann kamen die Dresdner nach Feierabend dazu, jeden Nachmittag bis weit in die Nacht. Das war eine Feierabendrevolution. Man konnte locker alle Polizisten um zwei Uhr morgens nach Hause schicken und für 14 Uhr am nächsten Tag zum Bahnhof bestellen. Man wusste ja: Die anderen kommen auch wieder.

Richter: Ich war jeden Abend am Hauptbahnhof, der Fußgänger-Boulevard an der Prager Straße war immer voller Menschen. Wenn Tausende an einem Ort stehen, etwa wenn sie in ein Stadion hineinwollen, gibt es ja so ein Grundrauschen, einen Pegel der Gespräche. Wenn viele Tausend aber an einem Ort sind und es ganz still ist, ist das gefühlt unnatürlich. Äußerlich sind alle still, innerlich sind alle laut. Irgendwann platzt einer. Und ruft was, dichtet: Wir bleiben hier, Reformen wollen wir! Das war Revolutionslyrik.

Pappermann: Am 7. Oktober gab es wieder eine Veränderung. Eigentlich war das ja der Tag der Republik, ein Feiertag des Volkes. Aber niemand wollte feiern.

Richter: Es war ein elementares Erlebnis: Miteinander sich versammeln; begreifen, wir sind viele; Worte suchen und finden; sie rausrufen; erleben, dass der Nachbar mitruft und der übernächste Nachbar; gemeinsam loslaufen; und man merkt: Das ist unsere Stadt, wir sind das Volk.

"Hätte ich was anderes gesagt, wäre ich da nicht heil rausgekommen."

Herr Pappermann, waren Sie ein Feind in der eigenen Stadt?
Pappermann: Ich habe mich gefragt: Was mache ich hier? Ich kann mich erinnern, dass ich in einer Parteischulung nach dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gefragt wurde, wie ich denn dazu stünde – eine Fangfrage. Ich habe geantwortet: Wer die Revolution anfässt, kriegt eins auf die Finger. Hätte ich was anderes gesagt, wäre ich da nicht heil rausgekommen. Dass der 8. Oktober der Endpunkt in Dresden war, konnte ja niemand wissen. Das ist ja alles ganz spontan geschehen.

Erzählen Sie!
Pappermann: Zunächst einmal muss man sagen: Wir waren eine Spezialeinheit; es wäre für uns ein Leichtes gewesen, 10.000 Leute vom Bahnhof zu vertreiben. Das hätten zehn Mann von uns gemacht, das hätten wir locker hingekriegt.

Mit der Schusswaffe?
Pappermann: Nein. Es gibt andere Mittel, die wehtun – da gehen die Leute von alleine. Ich will das nicht ausführen. Wir haben uns als Spezialeinheit gewehrt, das zu tun, es ist auch von oben nicht unbedingt verlangt worden. Man hat also mitbekommen, dass auch andernorts ein Umdenken geschah. Der 8. Oktober begann deshalb mit einem ruhigen Hin und Her. Wir hatten den Bahnhofsplatz abgesperrt, die Demonstranten liefen deshalb durch die Fußgängerzone an der Prager Straße zur Semperoper, quer durch die Stadt. Wir mussten mit unseren Einsatzwagen immer drumherum fahren. Als wir am Theaterplatz ankamen, sind die Demonstranten umgekehrt zum Hauptbahnhof. Also wir wieder zurück. Uns Polizisten war eingehämmert worden: Findet die Bösen und ergreift sie. Aber die waren für uns nicht zu greifen. Ich hatte dann die Idee, unsere Wagen leer zum Theaterplatz zu schicken und unsere Leute in die Nebeneingänge des Bahnhofes zu stellen. Als die Masse wieder zurückgelaufen kam, traten alle Polizisten aus den Eingängen ins Freie. Damit stand der Laden erst mal. Es wurde dunkel, und wir hatten die Störer zum ersten Mal im Griff.

Richter: Der 8. Oktober war ja ein Sonntag. Da hält ein katholischer Pfarrer Gottesdienst und hat danach frei. Ich war Jugendseelsorger und wusste deshalb, dass meine jungen Leute auf der Straße sind. Also ging ich auch hin und geriet abends in den Zug zum Hauptbahnhof. An den Vortagen hatte ich erlebt, wie die Leute in Gruppen eingekesselt und abtransportiert wurden. Ich hatte außerdem einen anonymen Brief bekommen, 14 handschriftlich verfasste Seiten: Dort hatte jemand aufgeschrieben, was er im Gefängnis erlebt hat und es bei der Kirche in den Briefkasten geworfen. Ein einfacher Mensch: inhaftiert, verschleppt ohne Ortsangabe, verprügelt, wieder verschleppt, wieder verprügelt, entlassen. Ich fürchtete, dass das jetzt wieder passiert. Ich war an der Spitze des Zuges und sah am Bahnhof, dass die Polizei die Straße abgesperrt hatte: mit Helmen, Schutzschilden und Knüppeln. An den Seiten war auch alles abgesperrt, ich musste also vermuten, dass wir gleich eingekesselt werden. Für einen solchen Fall hatte ich mir etwas vorgenommen: Lass das nicht über dich ergehen, versuche wenigstens, mit den Polizisten zu reden. Nun setzten sich die ersten Demonstranten auf die Straße, sie riefen: Keine Gewalt! Zwischen ihnen und der Polizei gab es eine Art Niemandsland, etwa 50 Meter breit. Da ging ich also los, gemeinsam mit einem anderen katholischen Kaplan liefen wir auf die Kette zu.

Pappermann: Ich weiß noch, wie still es war.

"Ich merkte: Die können meinen Blick nicht aushalten."

Richter: Ich sprach die Polizisten an, ging die Reihe einen nach dem anderen ab, sagte: Ich möchte den Einsatzleiter sprechen. Niemand antwortete, alle schauten auf die Erde. Ich merkte: Die können meinen Blick nicht aushalten. Ich sprach dann noch einen anderen Uniformierten an, der aus dem Hintergrund kam.

Pappermann: Das war ein Oberstleutnant.

Richter: Er ging aber wieder weg. Danach kam ein großgewachsener Zivilist auf mich zu, und dieser junge Mann hatte eine offenes Gesicht.

Pappermann: Das war ich. Ich fragte ihn: Was wollen Sie denn hier?

Richter: Ich sagte zu ihm: Die Demonstranten wollen keine Gewalt, Sie sicher auch nicht. Können Sie bitte den Oberbürgermeister anrufen, er soll kommen. Ich rede solange mit den Leuten.

Pappermann: Ich dachte nur: Das sind viele Tausend Leute da drüben; die alle festzunehmen, das kannst du vergessen. Erst mal reden ist keine schlechte Idee. Am besten informiere ich die Einsatzleitung. Also bin ich zum Funkgerät und habe die Polizeiführung ins Bild gesetzt.

Richter: Ich dachte, er spricht jetzt sicher mit Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, und ging zurück zu den Demonstranten. Da stand ein Springbrunnen, ich kletterte rauf, damit man mich sieht. Das Rauschen des Wassers war so stark, dass ich dachte, die verstehen mich gar nicht. Als ich aber oben war, passierte ein Moment wie aus dem Märchen: Der Springbrunnen schaltete sich ab – Stille. Es gab den ersten Applaus. Ich hatte mir kurz überlegt, was ich sagen soll. Erstens: Wir brauchen eine Gruppe. Wenn die Stadt mit uns reden sollte, muss es Ansprechpartner geben. Und zweitens: Wir müssen uns überlegen, was wir dann wollen. Ich rief also: Es kann sein, dass der Oberbürgemeister mit uns spricht, ich bitte zehn Personen, vorzukommen. Sofort kamen etwa 50. Wir wählten aus: Ein paar Junge, ein paar Alte, Arbeiter, Akademiker. Keiner von der Kirche, denn das Problem bestand ja zwischen Volk und Staat. Es blieben 23 Personen, später wurden sie „Gruppe der 20“ genannt.

Pappermann: Bei uns wurde lange überlegt, wer mit denen reden sollte. Jemand aus der Hauptstadt oder von der SED, vielleicht Hans Modrow? Aber ich sagte: Das müssen wir als Dresdner lösen, wir müssen mit Oberbürgermeister Berghofer sprechen. Die Polizeiführung telefonierte herum. Irgendwann wurde mir das Ergebnis übermittelt: Okay, wir machen das.

Richter: Ich stieg wieder auf den Brunnen und sammelte Forderungen ein, die mir die Menge zurief. Ich kann die acht Punkte heute noch auswendig. Der erste Schrei lautete: Reisefreiheit. Danach: Wahlfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Pressefreiheit, Zulassung der Oppositionsbewegung Neues Forum, Einrichtung eines zivilen Ersatzdienstes, Freilassung der politischen Häftlinge, friedlicher Dialog. Ich schrieb mir das auf.

Pappermann: Dann kam er mit der Gruppe zurück zu uns. Ich hatte die Anweisung: Schreibe die Namen auf. Ich besorgte mir einen Zettel, ein großes kariertes Blatt. Es ist leider verschollen.

"Ich sagte: Jetzt gehen wir nach Hause. Und alle gingen nach Hause."

Aus den Archiven wissen wir heute, dass Berghofer in diesem Moment gerade Besuch von einigen evangelischen Kirchenführern hatte. Unter diesem Eindruck entschied er sich offenbar, mit den Protestlern zu reden. Nach Zeugenberichten hatte er noch versucht, Dresdens SED-Chef Hans Modrow zu erreichen, der aber saß in der Semperoper bei „Fidelio“. Also entschied Berghofer selbst.

Richter: An diesem Abend fiel in Dresden an unterschiedlichen Plätzen und von ganz verschiedenen Leuten überall die gleiche Entscheidung: Wir machen die Dinge jetzt ganz anders.

Pappermann: Und solche Zufälle müssen gerade mir passieren, dem Atheisten.

Herr Pappermann, haben Sie nicht in dem Moment gedacht: Das hier ist die Revolution, das war’s mit dem Sozialismus?

Pappermann: Kein Stück. Es hat sich so gefügt. Inzwischen sprach Landesbischof Johannes Hempel zu der Menge – ich hatte ihm ein Megafon gegeben – über den weiteren Fortgang: Am nächsten Tag sollte es das Gespräch der Gruppe mit Berghofer geben, am Abend sollten die Ergebnisse in den Kirchen verkündet werden. Nun schaute mich Hempel mit großen Augen an: Und jetzt? Ich sagte: Jetzt gehen wir nach Hause. Und alle gingen nach Hause. Polizisten liefen mit Demonstranten zu ihren Autos, man redete. Es schien so, als sei alles, was in den letzten 30 Minuten abgelaufen ist, das Normalste von der Welt gewesen.

Richter: Am folgenden Tag kam es tatsächlich zu den Gesprächen im Rathaus, und bei den nächsten Demos gab es bereits eine Sicherheitspartnerschaft. Und am Abend des 9. Oktober gelang in Leipzig der Durchbruch: 70.000 Menschen waren friedlich auf der Straße.

Herr Richter, was ist aus der „Gruppe der 20“ geworden?
Richter: Unsere Forderungen waren einen Monat später mit dem Mauerfall faktisch erfüllt. Wir zogen als basisdemokratische Fraktion ins Stadtparlament ein – mit Rederecht, aber ohne Stimmrecht. Wegen ihrer Legitimation wurde die „Gruppe der 20“ von den Stadträten auf Augenhöhe behandelt. Einige Mitglieder zogen sich dann aber schnell zurück. Auch ich tat das, ich wollte ja als Pfarrer weiterarbeiten, nicht als Politiker. Mein Vertreter, Herbert Wagner, wurde später der erste frei gewählte Bürgermeister von Dresden.

Herr Pappermann, Ihr Spezialkommando wurde im Umbruch nicht mehr gebraucht. Haben Sie mal überlegt, etwas anderes zu machen?
Pappermann: Spezialkommandos sterben ja nicht aus. Unser Ziel war es damals nicht, gegen Staatsfeinde vorzugehen – jedenfalls nicht vorrangig. Wir haben desertierte sowjetische Soldaten eingefangen, solche Dinge. Auch heute geht es mir darum, bewaffnete Straftäter zu bekämpfen. Ich habe mich 1989 mit dem System identifiziert, es war ein Teil meiner Selbst. Heute habe ich einen anderen Blick auf die DDR; es gab Unrecht bis hin zur physischen Vernichtung, das lehne ich natürlich ab. Dass Schlimmste für mich ist, wenn ich von Leuten wie Margot Honecker höre, dass sie immer noch daran glauben, dass das richtig war.

Fühlen sie sich denn jetzt auf der richtigen Seite der Geschichte?
Pappermann: Man ist immer Teil von Geschichte. Man kann sich nicht aussuchen, ob man links oder rechts davon steht, man ist doch immer mittendrin. Damals hätte ich den Befehl ausgeführt, die Demonstration auseinanderzujagen. Wenn ich mich anders entschieden hätte, hätte ich das mit meinem Gewissen ausmachen müssen, mit niemandem sonst. Ich habe zum Glück niemals vor dieser Situation gestanden. Genauso wie ich damals den Befehl ausgeführt hätte, so stehe ich heute dazu, Recht, Gesetz und Ordnung einzuhalten.

Richter: Mein Gefühl aus dieser Zeit ist Dankbarkeit. Die Sache ist glücklich ausgegangen. Diesen Geschmack von 1989 habe ich heute noch auf der Zunge: Meine Neigung, Autoritäten nachzugeben und zu Kreuze zu kriechen, ist schwach ausgeprägt. Ich war damals 29 Jahre jung und sagte mir: Du hast mitgeholfen, den Staat wegzubekommen, den du weghaben wolltest. Was soll im Leben jetzt noch kommen?

Dieses Interview ist im Herbst 2012 im Tagesspiegel erschienen. Zum 25. Jahrestag der denkwürdigen Demonstration in Dresden veröffentlichen wir es hier erneut.

Robert Ide

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