Superwahltag für alle: Das Wahlrecht muss sich für Ausländer öffnen
Millionen Menschen in Deutschland haben keinen deutschen Pass. Sie sollten trotzdem mitentscheiden dürfen, wer das Land regiert, in dem sie leben. Eine Kolumne
In knapp vier Monaten, zum Superwahltag am 26. September, sind alle Berlinerinnen und Berliner aufgefordert, ihre Kreuzchen zu setzen – bei der Bezirks-, Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl.
Alle Berlinerinnen und Berliner?
Nein, fast ein Viertel der Stadtbevölkerung ist davon ausgenommen: Etwa 824.000 Menschen in Berlin haben laut Ausländerzentralregister keinen deutschen Pass. Gut ein Drittel davon wiederum hat einen EU-Pass, der sie zumindest zur Wahl auf kommunaler Ebene, also der Bezirkswahl, befähigt.
Für die anderen wird der 26. September ein Sonntag sein wie jeder andere. Ein Tag, an dem sie nicht über die Zukunft des Landes mitentscheiden dürfen, in dem sie leben.
Bundesweit sind 9,5 Millionen Menschen über 20 Jahren mit ausländischem Pass oder als Staatenlose registriert. Ihnen wird stärker als Menschen mit deutschem Pass auf die Finger geschaut, ob sie sich „gut integrieren“, einen sicheren Job finden oder ihre Kinder ordentlich deutsch sprechen.
[Gut vorbereitet auf den Superwahltag: Aktuelles und Wissenswertes zur Bezirkspolitik lesen Sie in unseren Leute-Newslettern. Hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Aber ihnen ist verwehrt, sich zur entscheidenden politischen Frage zu äußern: wer sie regiert. Ihre Meinung etwa zu Politikerinnen und Ministern, die rassistische Vorurteile ihnen gegenüber verbreiten, können sie beim Wochenmarkt teilen, aber nicht im Wahllokal.
Nicht überall braucht man zum Wählen die Staatsbürgerschaft
Die Staatsbürgerschaft ist oft Voraussetzung für das Wahlrecht, aber nicht immer. Etwa in Chile, Uruguay oder Neuseeland dürfen Ausländer wählen. Bedingung dafür ist eine Mindestaufenthaltszeit, in Neuseeland ein Jahr. Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt in vielen jungen Bundesstaaten der USA das Wahlrecht zwar nur für weiße Männer, aber Staatsbürger mussten sie nicht sein.
In 15 von 28 EU-Staaten dürfen bestimmte Gruppen von Drittstaatsangehörigen, also Menschen ohne nationaler oder EU-Staatsangehörigkeit, kommunal wählen. In Schottland dürfen alle legal dort lebenden Ausländer*innen an den schottischen Parlamentswahlen teilnehmen.
Wäre das auch in Deutschland möglich? Im Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 2, steht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Weiter wird konkretisiert: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts definiert das „Staatsvolk“ als die deutschen Staatsangehörigen. Und das Bundeswahlgesetz regelt: Wahlberechtigt sind „alle Deutschen“ über 18 Jahren.
Wer ist das „Volk“?
Es gab verschiedene Vorstöße, das Wahlrecht zu öffnen, etwa über die Reform einer Landesverfassung oder mit einem umfassenden Einwanderungsgesetz. Auch der Verfassungsrechtler Hans Meyer argumentierte vor 20 Jahren in seiner Abschiedsvorlesung als Präsident der Humboldt-Universität für mehr Flexibilität. Warum gehören zum „Volk“, von dem die „Staatsgewalt“ ausgeht, nicht auch „Ausländer, die in unserem Lande ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben“?
Dagegen wird oft argumentiert: Das Wahlrecht und die Staatsbürgerschaft sollte man erst nach „gelungener Integration“ bekommen. Doch viele Menschen in Deutschland engagieren sich jahrelang für ihre Nachbarschaft oder ihre Stadt, ohne die Staatsbürgerschaft zu beantragen.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Die Zahl der Einbürgerungen ging im Jahr 2020 sogar zurück. Dazu tragen hohe bürokratische Hürden bei, aber auch der emotionale Konflikt, in den Menschen gebracht werden, wenn sie sich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen.
Sich mit einem politischen System zu identifizieren setzt voraus, dass man daran teilhaben kann. Der Wahltag könnte ein formativer Moment sein für Millionen Menschen, die in Deutschland eine neue oder zweite Heimat gefunden haben.