Millionen Deutsche betroffen: Das wachsende Leiden Einsamkeit
Immer mehr Menschen fühlen sich sozial isoliert. Welche Folgen hat das und wie muss die Politik reagieren? Die 8 wichtigsten Fragen und Antworten.
Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich einsam. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Fraktion hervor.
Von Einsamkeit betroffen sind besonders ältere Menschen, aber nicht nur. Ein Befund trifft auf alle zu: Einsamkeit kann krank machen.
1. Wie viele Menschen in Deutschland leiden unter Einsamkeit – und welche Folgen hat das für deren Gesundheit?
Einsamkeit betreffe hierzulande „alle Bevölkerungsgruppen“, heißt es in der Antwort der Regierung auf eine Anfrage der FDP-Fraktion, die dem Tagesspiegel vorliegt. Die Zahl derer, die darunter leiden, steigt. So erhöhte sich die Anteil der betroffenen 45- bis 84-Jährigen zwischen 2011 und 2017 nach Regierungsangaben um rund 15 Prozent. In einzelnen Altersgruppen stieg die Quote sogar um fast 60 Prozent. So fühlten sich vor acht Jahren 5,1 Prozent der 65- bis 74-Jährigen einsam, zuletzt waren es bereits 8,1 Prozent.
Ein Problem auch schon für Jugendliche: Von den 11- bis 17-Jährigen gaben 4,2 Prozent an, sich oft oder immer einsam zu fühlen. Dabei würden Einsamkeitsgefühle häufiger von Mädchen erlebt als von Jungen. Die Zahlen stammen vom Deutschen Alterssurvey und einer Langzeitstudie des Robert-Koch-Instituts zur Kindergesundheit. Das Marktforschungsinstitut Splendid Research taxiert die Zahl der Betroffenen sogar noch höher. Ihm zufolge fühlten sich 2017 zwölf Prozent der Deutschen häufig oder ständig einsam. Besonders häufig isoliert fühlten sich Menschen in den Mittdreißigern, hier betrage die Quote 18 Prozent.
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Einsamkeit das Risiko für chronischen Stress, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Demenz, frühen Tod und Suizid erhöhen. Auch Pflegebedürftigkeit tritt bei einsamen Menschen früher und häufiger auf. Nach einer Studie der Brigham Young University ist Einsamkeit bezogen auf die Gesamtsterblichkeit so schädlich wie Rauchen oder Fettleibigkeit.
2. Wie wird Einsamkeit definiert?
Nicht jeder mit wenig sozialen Kontakten ist automatisch einsam. Auch wer wenig gesellig ist und sich selbst genügt, kann sich ein abwechslungsreiches, erfülltes Lebensumfeld schaffen, ohne über längere Zeit die Gesellschaft anderer zu vermissen. „Eine gewisse soziale Eingebundenheit aber braucht jede und jeder“, sagt Jule Specht, Professorin für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt- Universität zu Berlin. „Wir alle profitieren in unserem emotionalen Wohlbefinden von sozialen Kontakten.“
Entsprechend lässt sich die weitgehende Abwesenheit sozialer Kontakte als Zustand der Einsamkeit definieren. Indikatoren sind laut Maike Luhmann, Psychologieprofessorin an der Ruhr-Universität Bochum, „soziale Einbindung, die Zahl der Freundschaften und die Häufigkeit der Kontakte“. In einer 2016 von Luhmann und Louise C. Hawkley (Universität Chicago) publizierten Studie, die auch in der Kleinen Anfrage zitiert wird, heißt es: „Ein höherer Grad an sozialer Einbindung – sich mit Freunden und Verwandten zu treffen, Teil von sozialen Gruppen zu sein, in die Kirche zu gehen und ehrenamtlich aktiv zu sein – wird von der Kindheit bis ins hohe Alter mit einem geringen Grad an Einsamkeit verbunden.“
3. Je älter, desto einsamer?
Dieser weit verbreiteten Annahme widersprechen Luhmann und Hawkley mit ihrer Studie zu „Altersunterschieden in der Einsamkeit von der Jugend bis in das hohe Alter“. Ein besonders starkes Einsamkeits-Empfinden gibt es demnach statistisch unter jungen Erwachsenen um das 35. Lebensjahr, im Alter um 60 Jahre sowie in der Gruppe der Hochbetagten. Allerdings fällt es den Forscherinnen schwer, insbesondere für den Einsamkeits-„Peak“ junger Erwachsener Erklärungen zu finden. Denn die Faktoren, die jenseits der persönlichen sozialen Eingebundenheit zu Einsamkeit führen, seien vor allem für Menschen im hohen Alter ausschlaggebend. Das Einkommen, der Beziehungsstatus – als Single oder in einer Beziehung lebend – und die Haushaltsgröße sind der Studie zufolge für junge Erwachsene weniger relevant als für Alte, die zudem häufig unter körperlichen Einschränkungen leiden, durch die sie zusätzlich isoliert werden.
Ein Beispiel: Für Junge und Alte ist es gleichermaßen charakteristisch, Single zu sein. Dies werde unter den Jungen aber weniger als Auslöser für Einsamkeit empfunden, so Luhmann und Hawkley. Sie begründen dies damit, dass eine Partnerschaft im jungen Erwachsenenalter heute nicht mehr unbedingt gesellschaftliche Norm sei und Jüngere „die Abwesenheit einer romantischen Beziehung mit einem größeren sozialen Netzwerk im Privat- und Berufsleben kompensieren können“.
4. Was sind weitere Gründe für Einsamkeit?
Wer noch zur Schule geht, studiert, in der Berufsausbildung steckt oder frisch ins Arbeitsleben eingebunden ist, verfügt eher über größere Freundeskreise. Für junge Menschen „wirkt die Lebenszeit unendlich, ihr Fokus liegt auf der Vorbereitung der Zukunft“, sagt HU-Professorin Jule Specht. Älteren Menschen dagegen ist die Endlichkeit des Lebens bewusster. Ihr Fokus liege deshalb auf emotionalem Wohlbefinden, so dass Menschen dieses Alters „eher kleine, enge Freundeskreise haben und an Gewohntem festhalten“. Dadurch wirkten sich dann aber Verluste im Freundeskreis – etwa durch Krankheit oder Tod – auch besonders stark aus.
5. Welche Rolle spielt die Digitalisierung?
Einsamkeit junger Menschen wird häufig mit der Digitalisierung und entsprechender Freizeitgestaltung in Zusammenhang gebracht. Dass insbesondere junge Männer, die sich in der virtuellen Welt von Videospielen verlieren, weniger soziale Kontakte pflegen, liegt auf der Hand. Andererseits befördern soziale Medien den Austausch untereinander. Jule Specht sieht Facebook, Twitter, WhatsApp & Co. denn auch „als Chance, Einsamkeit in jeder Altersgruppe zu mindern, da sie zeitlich und räumlich flexible Kommunikation ermöglichen“. Und das gerade im hohen Alter, mit körperlichen Einschränkungen und für allein Lebende.
6. Was unternimmt die Regierung?
Sie hat ein Versprechen abgegeben. „Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen“, heißt es auf Seite 118 des Koalitionsvertrags. In der Praxis aber scheint sie eher ratlos. In der Antwort auf die Anfrage verweist die Regierung neben Fachkongressen und Monitorings ganz konkret nur auf die Förderung von Mehrgenerationenhäusern mit 17,5 Millionen Euro pro Jahr. 540 davon gebe es bereits in Deutschland, knapp die Hälfte davon offeriere „gezielte Angebote für einsame Menschen“. Allerdings läuft das Bundesprogramm dafür schon im nächsten Jahr aus. Daneben werden Maßnahmen zur Dorfentwicklung und Leistungen der Pflegeversicherung aufgelistet. So gebe es Angebote zur Alltagsentlastung, die Pflegebedürftige bei der Aufrechterhaltung sozialer Kontakte unterstützten.
Der FDP-Abgeordnete Andrew Ullmann liest aus alldem heraus, dass es das Thema mangels klarer Zuständigkeit nicht konzertiert angegangen wird. Vor allem sei die Bundesregierung „blank, wenn es um die Einsamkeit junger Menschen geht“. Ullmann sagt: „Wir sollten nicht so naiv sein zu glauben, dass radikale Umwälzungen wie die Digitalisierung sich nicht auf der psychosozialen Ebene auswirken.“
7. Wie gehen andere Länder mit dem Thema um?
Am weitesten vorgeprescht sind die Briten. Sie richteten 2018 ein Einsamkeits-Ministerium ein. Auf der Website des Ressorts heißt es, dass Einsamkeit auf dem Weg sei, Großbritanniens gefährlichste Erkrankung zu werden. Das Rote Kreuz nannte das Phänomen eine „Epidemie im Verborgenen“. Es fand heraus, dass 200.000 alte Menschen auf der Insel nur noch einmal pro Monat mit Freunden oder Verwandten reden. In Dänemark ergab eine Studie, dass sich jeder Dritte regelmäßig einsam und isoliert fühlt. Und in Japan stöhnt man seit langem über das Hikikomori-Syndrom. Dabei handelt es sich um meist männliche, junge Erwachsene, die sich plötzlich zurückziehen und jeden Kontakt zur Außenwelt rigoros abbrechen. Für die Betroffenen gibt es inzwischen spezielle Wohnheime zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
8. Was fordern Politiker?
Der FDP-Politiker und Mediziner Ullmann verlangt eine klare Strategie zur Bekämpfung von Einsamkeit. Dazu gehörten innovative Wohn- und Mobilitätskonzepte ebenso wie die Förderung von Gesundheitskompetenz. Es reiche nicht, die Verträge für Generationenhäuser zu verlängern und auf „ein Konvolut an Einzelprojekten“ zu verweisen, sagt er. Vielmehr brauche es „dringend eine Expertenkommission, die das Thema wissenschaftlich evaluiert und Empfehlungen vorlegt“. Der SPD-Experte Karl Lauterbach will das Problem personalisieren, er drängt auf einen Regierungsbeauftragten, der sich nach britischem Vorbild um Einsamkeit und Einsamkeitsschäden in der Gesellschaft kümmern soll.
Der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Marcus Weinberg, kann sich ebenfalls einen eigenen Bereich in der Regierung zur Koordinierung von Maßnahmen vorstellen. Es müsse mehr Angebote geben, die es einsamen Menschen ermöglichten, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sagt der CDU-Politiker. Und die Grünen drängen darauf, zunächst einmal die gesellschaftlichen Folgekosten von Einsamkeit zu ermitteln, um die Dringlichkeit von Maßnahmen zu untermauern. Sie gehe davon aus, sagt deren Gesundheitsexpertin Maria Klein-Schmeink, „dass sich jede Investition gegen Einsamkeit auch wirtschaftlich lohnt – von den positiven Auswirkungen auf jeden einzelnen einsamen Menschen ganz zu schweigen“.