Holocaust-Gedenktag: Das Verbrechen darf nicht mystifiziert werden
Was genau bleibt von Auschwitz? Diese drei Maximen auf jeden Fall: Wissen, was war, aushalten, dass es war, der Opfer gedenken. Ein Kommentar.
Wissen, was war, aushalten, dass es war, der Opfer gedenken: Es klingt nach wenig, minimalistisch gar, wenn sich in diesen drei Maximen die Antwort auf die Frage erschöpft, was die Lehren aus Auschwitz sind. Die emotionale Wucht des Ereignisses scheint mehr zu verlangen, eine Haltung, ein Bekenntnis, praktische Konsequenzen.
Aber gab es davon nicht genug? Auf Auschwitz berufen sich viele: von der antiautoritären Erziehung bis zum Protest gegen die Volkszählung, vom Pazifismus (Nie wieder Krieg) bis zur Intervention (Kosovo), vom Asylrecht bis zur Begründung der Europäischen Union, von der Ablehnung der Wiedervereinigung bis zur Sicherheit Israels, vom Datenschutz bis zur Flüchtlingspolitik. Ihnen allen dient die Vergangenheit als Kompass für das Tagesgeschäft. Sie überhöhen das Verbrechen pädagogisch und instrumentalisieren es politisch. Das ist anmaßend.
Ebenso anmaßend ist es, das Verbrechen zu mystifizieren und es mit religiöser Begrifflichkeit aufzuladen. Da wird von einer „Hölle auf Erden“ geredet und von „deutschen Teufeln“. In keiner Sprache lässt sich das Grauen adäquat beschreiben, kein Denkmal wird seiner gerecht. Immer bleibt ein Rest. „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“, hatte Karl Kraus bereits 1933 gewusst, im Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme, noch bevor in den Vernichtungslagern das Vernichten begann. Mit vielen falschen Worten lässt sich Erinnerung auch zuschütten. Sie wirken dann wie Erde, die auf ein Grab geschaufelt wird.
Der Gedenktag ist allen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet
Wissen, was war: Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die letzten lebenden Inhaftierten aus Auschwitz. Im Jahr 2005 wurde dieser Tag von den Vereinten Nationen zum Gedenktag an den Holocaust erklärt. Unter „Holocaust“ wird oft der Völkermord an den europäischen Juden verstanden. Doch der Gedenktag ist allen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet – ob es Juden waren, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Behinderte, Zwangsarbeiter, Widerständler. Keine Gruppe sollte aus dem Blick geraten, eine Hierarchisierung wäre frivol.
Auch sollte die Singularität von Auschwitz nicht als Exklusivität verstanden werden. Es gab andere Völkermorde, begangen etwa von deutschen Truppen vor mehr als hundert Jahren an den Herero und Nama. Begangen an den Armeniern im Osmanischen Reich, begangen an den Tutsi in Ruanda. Es relativiert die Verbrechen der Nationalsozialisten um keinen Deut, wenn Völkermorde, wo immer sie verübt wurden, auch Völkermorde genannt werden. Ebenso wenig werden die NS-Verbrechen relativiert, wenn auch die Verbrechen anderer totalitärer Ideologien thematisiert werden. Dass der 23. August als „Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ verschämt verschwiegen wird, ist blamabel.
Die Ermordeten mahnen – aber wen und wovor? Was genau bleibt von Auschwitz? Diese drei Maximen auf jeden Fall: Wissen, was war, aushalten, dass es war, der Opfer gedenken. Hinzu kommt noch etwas: Die Nachfolgenden sollten der Versuchung widerstehen, sich durch vorschnelles Begreifenwollen, Ausdeuten und Einordnen einen emotionalen Panzer zu bauen, der sie vor jeglicher Art Erschütterung schützt. Denn diese Erschütterung kann den Wunsch nach mehr Mut, Demut und Toleranz verstärken. Das mögen salbungsvoll-pathetische Begriffe sein. Sinnfrei sind sie keineswegs.